09.07.2024

In die Offensive!

[Gesellschaft] Warum Resilienz für die Zukunft der Demokratie zu wenig ist erläutern Carsten Brosda (SPD) und ich in einem Gastbeitrag für DIE ZEIT.

Es brauche keine kühnen Zukunftsvisionen und auch keinen Glauben an gesellschaftlichen Fortschritt, es genüge demonstrative politische Demut und pragmatische Arbeit an aktuellen Problemen. So lässt sich das Plädoyer des Berliner Soziologen Andreas Reckwitz zusammenfassen, das er kürzlich in Nr. 24/2029 der ZEIT veröffentlichte. Da das Geschäftsmodell rechter Populisten darauf abziele, Zukunfts- und Verlustängste auszubeuten, bestünde progressive Politik nicht im utopischen Überschuss. Die Demokratie sei vielmehr mit kleinen Schritten zu verteidigen, mit der Sicherung des Erreichten und mit strategischer Anpassung an sich verändernde Umwelten.

Das liest sich wie eine wissenschaftliche Übersetzung des Helmut Schmidt-Klassikers, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Doch diese demonstrative Gegenwärtigkeit von Politik ist zu wenig für eine Gegenwart, in der die rechten Fortschrittsfeinde Antonio Gramsci nicht nur gelesen, sondern auch verstanden haben. Sie sind dabei, mit ihrem Ruf nach Abschottung, Bewahrung kulturell ausgrenzender Weltbilder und libertärem Autoritarismus  die kulturelle Hegemonie zu erlangen.

Warum aber sollen bloß die Verächter der Freiheit und der Aufklärung leuchtende Augen haben, während die Freunde der Demokratie verzagt versuchen, das Schlimmste zu verhindern? Wer glaubt, es sei genug, bloß an die Rationalität zu appellieren und das Erreichte zu bewahren, folgt einer gefährlichen Defensivstrategie. Auch im Fußball ist es keine gute Idee, 90 Minuten lang bloß verhindern zu wollen, dass ein Tor fällt. Das machen nur Mannschaften, die sich dem Gegner unterlegen fühlen. Die Demokratie verdient beherztes Offensivspiel und gute Abwehr im eigenen Strafraum.

Progressive waren immer dann erfolgreich, wenn sie das Bild einer Zukunft entwarfen, für die es sich zu streiten lohnt. Rechte Rückschrittsfantasien gewannen in der Bundesrepublik erst an Zustimmung, als die Politik unter Angela Merkel begann, die Verwaltung und Optimierung des Erreichten als primäres Ziel zu formulieren. Es verwundert nicht, dass die Kanzlerin arge Schwierigkeiten bekam, als sie in Folge externer Schocks dann doch zum Handeln über den Tag hinaus gezwungen wurde. Bis heute werfen ihr Konservative und Rechte den neuerlichen Atomausstieg und eine liberale, realistische Migrationspolitik („Wir schaffen das“) als Sündenfälle vor.

Um keinen weiteren Widerstand zu erzeugen, begegnete Merkel den eher schleichend verlaufenden ökologischen oder digitalen Wandlungsprozessen nicht mit ambitionierter Transformationspolitik, sondern kleinteilig reaktiv. So ließ sich der Status quo eine Zeit lang sichern, aber die Wucht der jetzt eintretenden Veränderungen und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Folgen ist umso größer. Das zeigt: Der Rückschritt beginnt, wenn niemand mehr vom Fortschritt spricht.

Für Fortschritt muss man arbeiten. Die linke kritische Theorie hat deshalb die deterministische Geschichtsphilosophie bereits in den 1970er Jahren zu den Akten gelegt. Schon lange glaubt kaum jemand mehr daran, dass es eine naturgegebene Entwicklung der Gesellschaft zum Besseren gebe. Eine Mehrheit der Bundesbürger – ob alt oder jung – eint heute sogar die Überzeugung, kommende Generationen würden es schlechter haben.

Damit einher geht die in der Politik weit verbreitete Fehlannahme, dass man nur versprechen dürfe, was auch tatsächlich in einer Wahlperiode umsetzbar ist. Dabei ist die Diskrepanz zwischen dem, was man erreichen will, und dem, was man in einer gegebenen Zeit erreichen kann, ein Wesensmerkmal der Demokratie. In ihr liegt die Motivation weiterzumachen und sich zu bemühen, politisch noch mehr zu erreichen.

Was droht, wenn man diesen Zusammenhang negiert, zeigt sich im aktuellen Wahlkampf in Großbritannien: Labour-Chef Keir Starmer versucht derzeit seinen Umfragevorsprung von immerhin 20 Prozentpunkten wie eine kostbare Ming-Vase vorsichtig durch den langen Flur bis zum Wahltag zu tragen. Er setzt auf die Abneigung der Wähler gegenüber den Tories, die in 14 Jahren und unter fünf Premierministern das Land aus der EU und in eine wirtschaftliche Krise führten. Die Steuern sind so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr, zugleich warten acht Millionen Menschen auf einen Krankenhaustermin und die öffentliche Infrastruktur verrottet. Knapp vier Millionen Briten, darunter eine Million Kinder, leben in verfestigter Armut: Das sind, das müssen die Themen einer auf soziale Sicherheit und gesellschaftliche Gerechtigkeit bauenden progressiven Strategie sein.

Doch die Tories haben mit emotional-kontroversen Themen wie der Flüchtlingspolitik und einem aggressiven Kulturkampf jede rationale Auseinandersetzung fast unmöglich gemacht. Statt nun offensiv daran zu arbeiten, das öffentliche Gespräch wieder zu erweitern, reagiert Labour darauf mit bloß noch performativer Politik. Diese Strategie birgt die Gefahr, das ohnehin nur noch geringe Vertrauen in staatliche Institutionen und demokratische Fundamente weiter zu untergraben. Das würde den Raum vergrößern, in den Demagogen wie Nigel Farage vorstoßen können.

So groß der Wunsch ist, die Tories loszuwerden, so gering ist die Erwartung, Labour könnte die Lage wirksam verbessern. Diese Hoffnung zu entzünden wäre aber notwendig, um aus der ökonomischen und gesellschaftlichen Depression herauszufinden. Der Verzicht auf eine Zukunftsidee ist in diesem Sinne nicht bloß konservativ, er gefährdet letztlich auch die Demokratie selbst.

Andreas Reckwitz beschreibt die Verletzlichkeit liberaler Demokratien. Es sind vor allem die Veränderungen in der politischen Kultur, die die vordergründig stabilen Institutionen unseres Rechtsstaates erodieren lassen. Recherchen für das ‚Thüringen-Projekts‘ des Verfassungsblogs haben gezeigt, wie wenig der Rechtsstaat gegen die Abschaffung der Demokratie mit demokratischen Mittel schützt. Diese Verletzlichkeit zeigt sich auch in Ungarn und der Slowakei. Dort ist zu beobachten, wie Demokratien ins Wanken geraten können, weil ihre politischen Kulturen ausgehöhlt sind und demokratisch gewählte rechtspopulistische Regierungen beginnen, alle auszugrenzen, die ein anderes Gesellschaftsbild befürworten als sie selbst. Polen zeigt, dass dieser Weg umkehrbar ist. Aber es ist nicht leicht, eine bereits mutwillig beschädigte Rechtsstaatlichkeit mit demokratischen Mitteln wiederherzustellen.

Der passive Modebegriff der Resilienz greift deshalb zu kurz. Es geht nicht bloß um Widerstandsfähigkeit gegen Verschlechterungen und das erneute Einschwingen in den Zustand vor der Krise. Das hätte nur dann Sinn, wenn die Gesellschaft vor der Polykrise in einem annähernd idealen Status gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht die Bewahrung des demokratischen Status quo ist die Aufgabe der Progressiven, sondern eine Antwort auf die Frage nach einem ‚buon stato‘, nach einer guten Gesellschaft. Dafür müssen sie für eine aufgeklärte Vorstellung von Demokratie kämpfen. Fortschritt ist das Versprechen einer Veränderung zum Besseren. Er beruht sowohl auf einer anschlussfähigen Vision wie auch auf konkretem praktischem Handeln. „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“, hieß es zurecht 1972 im Bundestagswahlkampf von Willy Brandt. Das stimmt noch immer.

Migrationsbewegungen, ökologische Krisen und verfestigte soziale Ungleichheit sind die Bedingungen gegenwärtiger Ordnungskämpfe. Die Erinnerung an die Weimarer Republik bestimmt bis heute das gesellschaftliche Bewusstsein der Deutschen. Dabei denken wir Weimar gemeinhin vom Ende her, und vernachlässigen, dass nicht nur institutionelle Schwächen, konservative Reaktion und faschistische Gewalt zum Ende der ersten deutschen Demokratie führten. Die Arbeiterparteien, konnten sich weder in ihren politischen Idealen noch in ihren taktischen Methoden einigen. Hinzu kam ein eklatanter Mangel an gemeinsamer Fantasie bei den Progressiven, die für den Erfolg der Republik einstanden.

Geschichte muss sich nicht wiederholen. Es ist heute denkbar und möglich, dass die soziale und ökologische Demokratie den autoritären Populismus übertrifft und dessen drohende Hegemonie abwendet, weil sie nicht allein das fragile Bestehende bewahrt, sondern eben den ‚buon stato‘ anstrebt.

Der dafür nötige utopische Überschuss entsteht nicht durch eine Kommunikation des Verzichts, die die Erzählungen der Transformationsfeinde übernimmt. Eine Zukunft, in der Hochwasser, Dürreperioden und überhitzte Städte nicht zum Alltag werden, in der gute Arbeit, Selbstverwirklichung und ein sinnerfülltes Leben möglich sind, ist in sich ein Fortschritt. Und so kann man sie auch beschreiben. So muss man sie erzählen.

Wer sich heute für die Demokratie einsetzt, ist zurecht davon überzeugt, dass nur sie die Chance bietet, gesellschaftlich auszuhandeln, wie der Wohlstand gerecht verteilt, wie soziale Sicherheit gewährleistet, wie Chancen auf individuellen Aufstieg organisiert und wie im Einklang mit den planetaren Grenzen gelebt werden kann. Dabei geht es nicht bloß um die Verteidigung des Bestehenden, sondern immer auch um den verändernden Eingriff im Interesse der Vielen.

In einer Gesellschaft, die in viele einzelne Perspektiven zu zerfallen droht, wäre die Wiederentdeckung der res publica, der öffentlichen, alle betreffenden Sache, ein Fortschritt. Auch Andreas Reckwitz hat 2017 die „Rekonstitution des Allgemeinen“ als politisches Projekt benannt. Dafür braucht es eine Freiheit, die auf gemeinsam vereinbarten Regeln beruht, eine Gerechtigkeit, die nachhaltig den Ausgleich zwischen den verschiedenen sozialen Lebenswelten und Teilhabechancen gewährleistet, und eine Solidarität, die über die verschiedenen Milieus und Klassen hinweg Gemeinschaft – und damit Gesellschaft – überhaupt erst möglich macht.

In den jüngsten Krisen unserer Zeit, während der Pandemie oder zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, war eindrucksvoll zu sehen, dass unsere Gesellschaft bereit ist zu teilen und zu helfen. Praktische Solidarität ist möglich. Jeden Tag erleben wir aufs Neue, wie Menschen ins Gespräch darüber einsteigen, was ihnen am Status Quo nicht gefällt und was sie ändern wollen würden. Sinn hat das alles nur, wenn sie zugleich unterstellen, dieser Kraftaufwand könne auch wirklich etwas verändern. Wenn sie also annehmen, Fortschritt sei nach wie vor möglich.

Willy Brandt erkannte schon vor mehr als 30 Jahren, dass nichts von selbst komme und nur wenig von Dauer sei. „Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“, mahnte er. Damit hat er immer noch recht: Jede politische Antwort bezieht sich auf die Zeit, in der sie gegeben wird. Die progressiven Antworten aber dürfen sich darin nicht erschöpfen: Fortschritt hat ein Ziel. Das Gute liegt in der Zukunft.

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Der Beitrag erschien in Nr. 29/2024 der ZEIT

Carsten Brosda (SPD) ist Senator für Kultur und Medien in Hambur

Benjamin-Immanuel Hoff (Die Linke) ist Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei in Thüringen