09.07.2024

Schluss mit dem Streit über die Schuldenbremse

[Finanzen] Die Diskussion um die Reform der deutschen Fiskalregeln im Grundgesetz ist ideologisch blockiert. Übersehen und ungenutzt bleiben dabei die bereits vorliegenden pragmatischen Vorschläge zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft.

Die Fußballeuropameisterschaft in unserem eigenen Land soll der nachhaltigste Wettbewerb werden. Einige Mannschaften bewegen sich zwischen ihrem Turniercamp und den Spielen vorrangig mit der Bahn – und erleben, wie viel zu viele Fans, die Folgen jahrzehntelang ausgebliebener ausreichender Investitionen in den Erhalt und die Modernisierung der Schieneninfrastruktur.

Deutschland ist sicherlich nicht der kranke Mann Europas, als der er in der wirtschaftspolitischen Debatte vielfach überzeichnet wird. Doch eindeutig ist, dass wir strukturelle Probleme haben, die gelöst werden müssen. Investitionen in die Schieneninfrastruktur sind davon nur ein Teil. Der Bundesverband der Deutschen Industrie schätzt den dafür nötigen zusätzlichen Investitionsbedarf auf 63 Milliarden Euro, Wirtschaftswissenschaftler wie Michael Hüther und Sebastian Dullien prognostizieren den Bedarf beim Ausbau des Schienennetzes auf 59,5 Milliarden Euro. Der darüberhinausgehende Ausbau des ÖPNV wird aus Sicht von BDI und Wirtschaftswissenschaft weitere öffentliche Investitionen zwischen 30 und 60 Milliarden Euro erfordern.

Nimmt man alle nötigen zusätzlichen Investitions- und Förderbedarfe für die Modernisierung von Infrastruktur, Bildung und Wohnen, die Erreichung der Klimaschutzziele und die wirtschaftliche Transformation sowie die Resilienz unserer Gesellschaft zusammen, sieht der Bundesverband der Deutschen Industrie für die nächsten zehn Jahre einen Gesamtbedarf von bis zu 400 Milliarden Euro. Die Wirtschaftswissenschaftler ermitteln einen in der Haushaltsplanung nicht abgedeckten öffentlichen Investitionsbedarf von bis zu 600 Milliarden Euro. Aufgrund inzwischen gestiegener Preise, veränderter demografischer Aussichten, verschärfter Anforderungen an Dekarbonisierung und den Umbau der Energieversorgung einerseits aber auch bereits umgesetzter Investitionen andererseits entspricht dies einem Anstieg notwendig gewordener öffentliche Mehrausgaben für die Modernisierung der Infrastruktur und die Transformation um rund 140 Milliarden Euro gegenüber entsprechenden fünf Jahre zurückliegenden Bedarfsermittlungen. Diese notwendigen Staatsaufgaben hätten reduziert werden können, wenn die seit Jahren blockierte Debatte um einen vernünftigen Umgang mit der Schuldenbremse in Art. 109 in Verbindung mit Art. 115 GG ohne ideologische Scheuklappen konstruktiv aufgelöst worden wäre.

Es ist endlich Zeit, diesen Schritt zu gehen und unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen. Denn die Lage ist zu ernst, um mit der Fiskalpolitik Wahlkampf zu betreiben, statt Lösungen für die Modernisierung unseres Landes zu formulieren. Dass unsere föderale Demokratie dazu in der Lage ist, beweisen sowohl die beiden Föderalismuskommissionen zum Beginn dieses Jahrhunderts als auch der jüngst der zwischen Bund und Ländern verabschiedete Pakt für Planungs-, Genehmigungs- und Umsetzungsbeschleunigung.

Halten wir deshalb fest: Die Forderung nach vollständiger Abschaffung der Schuldenbremse im Grundgesetz ist weder durchsetzbar noch unbedingt nötig. Gleichzeitig ist es eine perfekte Schuldenbremse ebenso unrealistisch wie eine Politik, die auf die Maximierung von Wählerstimmen verzichtet und stattdessen ausschließlich volkswirtschaftlich verantwortungsvoll und generationengerecht mit den öffentlichen Finanzen umgeht.

Wir werden deshalb weiterhin in Deutschland und auf europäischer Ebene Fiskalregeln beibehalten – weshalb es darauf ankommt, diese vernünftig auszugestalten. Hierzu sind in den vergangenen Jahren sehr kluge und pragmatische Vorschläge unterbreitet worden, zuletzt von den Wirtschaftsweisen. Diese Vorschläge sollte die Bundesregierung nunmehr in den Entwurf einer Grundgesetzänderung aber auch der Änderung des Artikel-115-Gesetzes überführen und dem Deutschen Bundestag sowie dem Bundesrat zur Beratung vorlegen. Im Rahme dieser Änderung sollten die Länder zumindest den selben Handlungsspielraum wie der Bund erhalten, in besonderen Notlagesituationen Kredite aufnehmen zu können. Denn seinerzeit ging eine Mehrheit der Länder in einem Akt der Selbstüberschätzung davon aus, vollständig auf jede Neuverschuldung verzichten zu können. Die Stapelkrisen der vergangenen Jahre, entsprechende Kreditaufnahmen und sehr unterschiedliche Zeiträume der Rückzahlungen zeigten den Irrtum dieser Annahme und zugleich die fehlenden einheitlichen Handlungsweisen. So hielt das in Thüringen aufgestellte Sondervermögen einer verfassungsgerichtlichen Prüfung stand, während es in Hessen, wie im Bund auch, der Verfassung nicht genügte.

Die Änderung der Schuldenbremse im Grundgesetz ist freilich nicht die Allheillösung, zu der sie einige stilisieren. Ebenso wie der Bundesverband der Deutschen Industrie schlagen wir deshalb vor, die Investitionsbremse zu lösen, indem unter der vom BDI formulierten nachvollziehbaren Voraussetzung, „dass eine effizientere öffentliche Mittelverwendung sichergestellt, notwendige Strukturveränderungen angegangen und investive Ausgaben priorisiert werden“, inhaltlich und zeitlich präzise priorisierte Sondervermögen nach dem Vorbild des Bundeswehrsondervermögens in Art. 87a GG aufgestellt werden. Nur so können öffentliche Investitionen und die nötigen Anreize für private Investitionen, Planungssicherheit für die Wirtschaft und Verlässlichkeit unserer Infrastruktur harmonisiert werden. Spätestens bei der wohl unumgänglichen Verlängerung des Bundeswehrsondervermögens muss dies geschehen.

Deutschland hat es bei dieser Europameisterschaft endlich über die Vorrunde hinaus in den Kreis der besten Mannschaften unseres Kontinents geschafft. Wir sehen also, dass alles was nötig ist, bereits in uns steckt. Nun muss der Fuß von der Bremse genommen werden, denn es ist Zeit, dass sich was dreht.

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Der Beitrag erschien in der FAZ am 6. Juli 2024

Bodo Ramelow ist Ministerpräsident des Freistaates Thüringen / Benjamin-Immanuel Hoff ist Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Thüringer Staatskanzlei