09.08.2024

Wer den Mund spitzt, muss auch pfeifen.

[Finanzen] Eine Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz, vor allem aber für notwendige Investitionen in die Modernisierung Deutschlands ist unabweisbar. Dafür liegen Vorschläge auf dem Tisch. Diese müssen freilich endlich praktisch werden.

Dass die drei einflussreichen Gruppen Seeheimer Kreis, Parlamentarische Linke und Netzwerk Berlin in der SPD-Bundestagsfraktion ein gemeinsames Positionspapier veröffentlichen, hat äußersten Seltenheitswert. Umso bedeutsamer erschien es, als sie im Juni des Jahres den Bundeskanzler Olaf Scholz aufforderten, die Haushaltsnotlage zu erklären, um auch bei der Aufstellung des Jahreshaushalts 2025 von den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Kreditaufnahme Gebrauch machen zu können: „Das Dogma der schwarzen Null bedeuten Stillstand und wirtschaftliche Unvernunft. Angesichts der außergewöhnlichen Notsituationen in der Ukraine und den deutschen Flutgebieten sollten wir auch in diesem Jahr die Ausnahmeregelung der Schuldenbremse nutzen.“

Letztlich nützte auch diese Intervention nichts. Weder verständigte sich die Ampelkoalition im Koalitionsausschuss der ersten Juliwoche auf eine erneute Erklärung der Haushaltsnotlage für 2024, um Spielräume für den diesjährigen Nachtragshaushalt zu eröffnen, noch ist eine grundsätzliche Wende in der künftigen Fiskalpolitik vorgesehen. Stattdessen geht der Dauerstreit der Ampelkoalition auch auf diesem Feld weiter.

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich betonte laut FAZ am Tag der Grundsatzeinigung auf den Haushaltsentwurf 2025, „dass eine Menge Kunstgriffe nötig gewesen seien, um von einer Lücke von 40 Milliarden Euro auf zehn Milliarden zu kommen, die jetzt offensichtlich so auskömmlich ist, dass man ohne den Überschreitungsbeschluss wird arbeiten können“ und fügte hinzu, dass man über die Notlage erneut diskutieren müsse, wenn sich herausstelle, dass diese Annahmen nicht untersetzt seien.

Der FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner wiederum konterte im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit der ebenso falschen wie staatspolitisch dreisten Behauptung: „Man kann aber die Demokratie nicht verteidigen, indem man dauernd die Verfassung infrage stellt.“ Gerade in einer Demokratie ist die Möglichkeit zur Änderung der Verfassung ein zentraler Bestandteil des politischen Prozesses. Verfassungen sind keine statischen Dokumente, sondern sollen sich an veränderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen anpassen können. Die gesellschaftliche Diskussion über ggf. nötige Verfassungsänderungen ermöglicht die diskursive Mitbestimmung, über zentrale Fragen der Staatsgestaltung und Finanzpolitik. Dies stärkt die Demokratie, anstatt sie zu schwächen.

Entbrannt ist die grundsätzliche Debatte um die Reform der Schuldenbremse einerseits und die kurzfristige Bereitstellung notwendiger finanzieller Mittel andererseits, die wissenschaftlich-publizistisch seit Jahren geführt wird, erneut seit das Bundesverfassungsgericht mit Entscheidung vom 15. November 2023 (2 BvF 1/22) der finanzpolitischen Strategie der Ampel die Grundlagen entzog.

Zur Erinnerung: Die Ampel-Koalition beabsichtigte ursprünglich, Kredite im Wert von 60 Mrd. EUR aufzunehmen, um damit Maßnahmen zur Umsetzung der Klimaziele und klimagerechten Transformation zu finanzieren. Dazu sollte ein spezieller Fonds aufgelegt werden. Da aus Sicht der Verfassungsrichter mit dem Klima- und Transformationsfonds die Schuldenbremse umgangen würde, erklärten sie das Vorhaben für nicht verfassungskonform.

Zutreffend weist Michael Hüther, Direktor des Instituts der Wirtschaft in Köln, darauf hin, dass „wohl kaum eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so dramatische Auswirkungen auf die Tagespolitik hatte“, wie das Urteil vom 15. November 2023. Annulliert wurde nicht nur das Herzstück der Ampel, der Klima- und Transformationsfonds (KTF), sondern auch die verfassungskonforme Ausgestaltung der Bundeshaushalte für die Jahre 2024 und 2025 steht seither vor enormen Schwierigkeiten.

Die Deckungslücke beim Haushalt 2025 zu schließen, indem eine außergewöhnliche Notsituation gemäß Art. 115 GG, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, festzustellen, mag kurzfristig greifen und insofern hilfreich sein. Eine grundsätzliche Lösung bietet sie aber nicht. Dafür wäre ein grundsätzlicheres fiskalpolitisches Umsteuern erforderlich.

Das lehnt der FDP-Parteivorsitzende Lindner aus ideologischen Gründen und gegen immer lauter werdenden wirtschaftswissenschaftlichen Rat ab. Nachdem er entsprechende Forderungen lange Zeit ignorierte, drehte er – nachdem der Druck immer stärker wurde – mehr oder weniger homöopathisch an Stellschrauben der Haushaltstechnik. Allein neun Milliarden Euro zusätzlicher Spielraum im Haushalt entsteht durch eine andere Buchungsmethode für die Bundesschulden aufgrund der mit der Zinswende der EZB veränderten finanzpolitischen Situation. Sowohl der Bundesrechnungshof als auch die Bundesbank hatten eine solche Veränderung bereits seit geraumer Zeit angemahnt. Darüber hinaus wird die Konjunkturbereinigung gemäß Art. 115 GG – auf die weiter unten eingegangen wird – angepasst. Auch dies eine Maßnahme, über die bereits länger diskutiert wurde und die schon im Koalitionsvertrag der Ampel 2021 angedeutet wurde. Kurzum: Die Reform der Schuldenbremse ist überfällig und weiterhin notwendig.

Der Volltext meiner Analyse kann hier abgerufen werden.