26.08.2024

Kein grundlegender Reformbedarf bei der juristischen Ausbildung?!

[Recht] Jurist:innen müssen ihr Handeln und dessen Folgen reflektieren. Eine Reform der Ausbildung ist nötig. Dazu veröffentlichte ich auf dem Blog des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit.

In der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) veröffentlichte Luís Tiago Sartingen, zuletzt Vorstandsmitglied beim Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften (BRF), einen Beitrag zur Reform der Justizministerkonferenz (JuMiKo).[1]

Nachdem die Justizminister:innen auf ihrer diesjährigen Frühjahrskonferenz durch Beschluss feststellten, dass eine grundlegende Reform der juristischen Ausbildung nicht notwendig sei, ist Sartingen der Auffassung, dass effiziente und sinnvolle Entscheidungen über die juristische Ausbildung erst getroffen werden können, wenn die Beratungs- und Entscheidungsgremien, also die JuMiKo selbst, durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen sowie bei der Umsetzungspraxis gefasster Beschlüsse reformiert wird.

Geteilt wird die Kritik von Sartingen im Hinblick auf die von der 95. JuMiKo im Beschluss zur „Zukunft der volljuristischen Ausbildung“ getroffenen Feststellung, dass „die volljuristische Ausbildung sich bewährt hat und insgesamt gut geeignet ist, den Absolventinnen und Absolventen das notwendige Fachwissen und die wesentlichen Kompetenzen zu vermitteln, die für eine Tätigkeit in den volljuristischen Berufen erforderlich sind und auch künftig erforderlich sein werden. Sie sind sich einig, dass grundlegender Reformbedarf nicht besteht.“

Abweichend von Sartingen erscheint es mir sinnvoll, sich zunächst kritisch auf den vom Ausschuss zur Koordinierung der Juristenausbildung vorgelegten Bericht „Juristin und Jurist der Zukunft“ zu beziehen und anschließend die JuMiKo in den Blick zu nehmen.

Der Koordinierungsausschuss erstattet, wie in der Einleitung zum Bericht ausgeführt wird, seit Langem im Auftrag der JuMiKo Gutachten und Berichte zu Fragen der Ausbildung von Jurist:innen. Im Zeitraum 2017/2018 führte eine Länderarbeitsgruppe eine Untersuchung durch, warum Studierende des Studiengangs „Rechtswissenschaft mit Abschluss erste Prüfung“ das Studium abbrechen. Im Ergebnis gelangte der Koordinierungsausschuss zur Auffassung, sich ohne konkreten Auftrag und ohne Frist der Frage nach der Zukunft der Juristenausbildung zuzuwenden. Die dafür eingesetzte Arbeitsgruppe führte mit Lernenden, Lehrenden sowie Berufsträger:innen rund 90 strukturierte Interviews durch, die – pandemiebedingt verzögert – im vergangenen Jahr abschließend dokumentiert wurden.

Die 94. JuMiKo vom 10. November 2023 unter dem Vorsitz des Landes Berlin beauftragte den Koordinierungsausschuss, die Ergebnisse seiner Untersuchungen auf der diesjährigen Frühjahrskonferenz vorzulegen. Der 236 Seiten umfassende Bericht des Koordinierungsausschusses kommt auf S. 83 zur Feststellung des grundlegend nicht bestehenden Reformbedarfs der juristischen Ausbildung. Diese Auffassung machte sich die 95. JuMiKo in Ziffer 3 ihres Beschlusses wortgleich zu eigen.

Der Koordinierungsausschuss begründet seine Haltung mit den auf Basis der Interviews gewonnenen Erkenntnissen (S. 71 ff.) und Herausforderungen (S. 80 ff.):

  1. Bei aller Kritik in Detailfragen sei eindeutig festzustellen, dass die deutsche Juristenausbildung für attraktiv zu erachten sei.
  2. Breites Einvernehmen bestünde hinsichtlich der „Grundfesten“ der deutschen Juristenausbildung: dem Prinzip der sog. Einheitsjuristin bzw. des Einheitsjuristen, der Zweigliedrigkeit der Ausbildung und den juristischen Staatsprüfungen.
  3. Breite und Tiefe der Ausbildung einerseits sowie die Anforderungen zweier anspruchsvoller juristischer Staatsprüfungen andererseits blieben nicht ohne Auswirkungen auf Belastung und Psyche der Studierenden bzw. Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare.
  4. Eine Erweiterung der volljuristischen Ausbildung auf weitere Berufsbilder erscheine nicht angezeigt, stattdessen sollte die primäre Ausrichtung der volljuristischen Ausbildung auf die „klassischen“ juristischen Berufe keinesfalls aufgegeben werden.
  5. Als wesentliche Herausforderung für die künftige juristische Berufspraxis und damit auch für die Juristenausbildung würde die zunehmend alle Lebensbereiche erfassende Digitalisierung angesehen.

Im Ergebnis formulierte der Koordinierungsausschuss neun Anregungen für weitere Verbesserungen der Jurist:innenausbildung. Vorgeschlagen werden eine anspruchsvollere Zwischenprüfung, die Steigerung der psychischen Belastbarkeit und Resilienz der Studierenden bei Sensibilisierung der Lehrenden für psychischen Stress, die Vermittlung von Kompetenzen bei IT und Digitalität, Methoden, Soft Skills und Fremdsprachenkenntnissen sowie wirtschaftlichem Verständnis. Zudem wird für mehr Praxisbezug im Studium plädiert.

Überraschenderweise stützen sich der Bericht des Koordinierungsausschusses und die daraus abgeleiteten Empfehlungen ausschließlich auf die vom Ausschuss selbst durchgeführten qualitativen Interviews. Keine Berücksichtigung finden hingegen Untersuchungen und Stellungnahmen jenseits des Koordinierungsausschusses.

Dies verwundert umso mehr, als verschiedene Institutionen jüngst sehr konkrete Vorschläge unterbreitet haben. Im Dezember 2023 lud die Bucerius Law School in Hamburg zu einer Arbeitstagung ein. Das als Resultat der Diskussion zwischen Dekan:innen, Pro- und Studiendekan:innen, Jurist:innen und Studierenden verschiedener juristischer Fakultäten abrufbare „Hamburger Protokoll zur Reform der ersten (juristischen) Prüfung“ umfasst vier Kernforderungen:

  1. Reduktion des Pflichtfachstoffs durch Verlagerung: Durch die Verlagerung bestimmter Stoffgebiete aus der staatlichen Pflichtfachprüfung in das Studium soll die Belastung der Studierenden verringert und eine praxisnähere Ausbildung ermöglicht werden.
  2. Einführung eines integrierten Bachelor of Law (LL.B.): Die Integration eines LL.B. in den Staatsexamensstudiengang bietet eine attraktive Ergänzung und eine flexiblere Ausbildungsmöglichkeit für angehende Jurist:innen.
  3. Einrichtung barrierefreier Ansprechstellen zur Konfliktvermeidung: Niedrigschwellige Ansprechstellen sollen Konflikte in Prüfungssituationen vermeiden und eine Sensibilität für die Belange der Prüflinge entwickeln.
  4. Monitoring der ersten Prüfung: Eine langfristige Überprüfung und Evaluation der Ausbildungsziele und -inhalte soll die Qualitätssicherung gewährleisten und eine kontinuierliche Verbesserung ermöglichen.

Ausgangspunkt der Hamburger Tagung waren die seit Frühjahr 2023 vorliegenden Ergebnisse der wohl umfangreichsten Studie zur Reform der juristischen Ausbildung. Sie wurde vom Bündnis „iur.reform“ initiiert und durchgeführt. Die iur.reform-Studie basiert auf den Ergeb­nissen einer Abstimmung über 43 Thesen, die vom 17.01.2022 bis zum 17.07.2022 durch­geführt wurde und an der 11.842 Personen teilnahmen. Die 43 zur Abstimmung gestellten Thesen basierten auf der Auswertung von über 200 Beiträgen in Fachzeitschriften und Artikeln aus den Jahren 2000 – 2020 und wurden ausgewählt, weil sie dort regelmäßig diskutiert wurden.

Die Studienergebnisse, deren Rohdaten hier zu finden sind, wurden im Rahmen eines Stakeholder-Prozesses sieben Verbänden mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet. Der Deutsche Richterbund, der Deutsche Juristinnenbund, der Postmigrantische Jurist*innenbund, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Bundesverband der rechtswissenschaftlichen Fachschaften, das Liquid Legal Institute sowie der Ausschuss Aus- und Fortbildung des Deutschen Anwaltsvereins nahmen zu den Ergebnissen Stellung. Die Stellungnahmen sind in der Langfassung der Studie dokumentiert.

Auf Grundlage der Studienergebnisse und Stellungnahmen formulierten die iur.reform-Autor:innen ein Sofortprogramm, wo folgende Thesen (Forderungen) aufgenommen und ausführlich diskutiert wurden:

  1. Zulassung alternativer Prüfungs- und Unterrichtsformen neben Klausur/Vorlesung
  2. Unabhängige Bewertung
  3. Neue Inhalte nur bei Streichung von Bestehenden
  4. Regelmäßiges Monitoring
  5. Hilfsmittel im Examen – Computer zum Schreiben
  6. Betreuungsschlüssel

Adressiert werden jeweils zuständige Ebenen, wie die Prüfungsämter, die Justizministerkonferenz allein bzw. gemeinsam mit den Gesetzgebern des Bundes und der Länder sowie die Universitäten.

Warum weder der Ausschuss zur Koordinierung der Juristenausbildung noch der Deutsche Juristen-Fakultätentag von der iur.reform-Kampagne um Stellungnahme gebeten wurde oder ob sie angefragt waren, aber keine Stellungnahme abgegeben hatten, ist der Studie nicht zu entnehmen.

In jedem Fall hätte der Koordinierungsausschuss seine Erkenntnisse ins Verhältnis zur iur.reform-Studie und deren Schlussfolgerungen sowie den daraus abgeleiteten weiteren Debatten (u.a. Hamburger Protokoll) setzen sollen. Zu spät ist es dafür nicht.

Die Justizminister:innen beauftragten auf ihrer Frühjahrstagung im Juni 2024 den Koordinierungsausschuss Juristenausbildung, seinen Bericht dem Deutschen Juristen-Fakultätentag und dem Bundesverband der rechtswissenschaftlichen Fachschaften als Vertretung der Lehrenden bzw. der Studierenden zu übermitteln. So soll ein Austausch mit den juristischen Fakultäten über die Empfehlungen des Koordinierungsausschussberichts begonnen werden. Dieser von der JuMiKo angestrebte Austausch sollte sowohl um die Erkenntnisse der iur.reform-Studie als auch die daraus abgeleiteten weiteren Debattenergebnisse ergänzt werden. So könnten die Schlussfolgerungen aus beiden Untersuchungen miteinander verschränkt werden. Bereits 2012 verabschiedete der Wissenschaftsrat[2] eine Stellungnahme zu den „Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland“. Ob und wenn ja, welche Aspekte dieser Stellungnahme in eine solche Erörterung einbezogen werden, sollten die handelnden Akteure entscheiden.

In jedem Fall dürfte ein solch erweiterter Ansatz vermutlich dazu führen, dass die apodiktische Aussage von Koordinierungsausschuss und JuMiKo, grundlegender Reformbedarf bestünde in der Jurist:innenausbildung nicht, einer mehr oder weniger umfangreicheren Revision unterzogen wird.

Ein solcher Ansatz, der vom nächsten Vorsitzland der JuMiKo politisch flankiert und begleitet werden sollte, würde bereits der von Sartingen via NJW formulierten Forderung an die JuMiKo Rechnung tragen, die Debatte über die juristische Ausbildung breiter und diverser aufzustellen, als dies beim Koordinierungsausschuss gegenwärtig der Fall ist. Dies stellt die verdienstvolle Tätigkeit der Mitglieder des Ausschusses in keiner Weise in Frage. Im Gegenteil wird die Bedeutung seiner kontinuierlichen Analyse und Beratungsfunktion durch die Forderung noch unterstrichen.

Die von Sartingen im Übrigen formulierten Anforderungen an die Reform der Entscheidungsstrukturen der JuMiKo sind aus meiner Sicht nachvollziehbar. Hierbei dürfen freilich zwei Aspekte nicht übersehen werden. Zum einen verfügt die JuMiKo bislang über keine klassische Geschäftsordnung. Entsprechende Bestrebungen führten, soweit bekannt, bislang nicht zu einem formellen Beschluss der Minister:innenkonferenz. Zum anderen besteht in anderen Fachminister:innenkonferenzen bzw. der MPK, bei denen kein Einstimmigkeitsprinzip besteht, ein qualifiziertes Mehrheitsprinzip. In der Regel im Verhältnis von 13 zu 3 Ländern.

Doch auch dort, wo statt Einstimmigkeit ein qualifiziertes Mehrheitsprinzip geregelt ist, findet das für die vertikale Selbstorganisation der Länder grundlegende Selbstverständnis Anwendung, einen möglichst breiten Konsens zu finden. Es ist deshalb auch in Konferenzen mit einer entsprechenden qualifizierten Mehrheitsregel üblich, dass die überwiegende Zahl der Beschlüsse einstimmig gefasst wird, häufig unter der Abgabe von Protokollerklärungen. Die Nutzung der Mehrheitsregel stellt die absolute Ausnahme dar.

Der hier zugrundeliegende Gedanke ist, dass die Länderinteressen jenseits des Parteienwettbewerbs verhandelt werden. Angesichts der Verhärtungen im parteipolitischen Diskurs sollte dieser Anspruch der föderalen Selbstorganisation, grundsätzlich den Konsens zu suchen, auch erhalten bleiben. Es wäre das Gegenteil der in den Vereinigten Staaten zu beobachtenden Spaltung des Landes entlang der parteipolitischen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern.

Dies spricht keineswegs gegen die Ersetzung des Einstimmigkeitsprinzips durch eine qualifizierte Mehrheit, wie sie nunmehr auch für die unter dem Dach der KMK tätigen Konferenzen der Kulturminister:innen, der Bildungsminister:innen und der Wissenschaftsminister:innen gelten soll.

Zum anderen: Dass gefasste Entscheidungen von Fachminister:innenkonferenzen in der tagespolitischen Praxis Wirkungen entfallen sollen, dürfte eine Selbstverständlichkeit darstellen, auch wenn Sartingen Beispiele anführt, in denen dies offenbar nicht der Fall war.

Abschließend ist festzustellen, dass die Reform der JuMiKo als Gremium bei dem seit vielen Jahrzehnten, bis zur ersten Loccumer Tagung zurückgehend, unvollendeten Handlungsfeld der Reform der juristischen Ausbildung, eine eher untergeordnete Rolle spielt. Erforderlich scheint vielmehr, das Verständnis der handelnden Akteur:innen auf die Bereitschaft auszurichten, die Reformschritte auch zu gehen. Die iur.reform-Akteur:innen formulieren als Bezugsrahmen ein „Loccum 2.0“. Wer jedoch von Loccum spricht, sollte über die gesellschaftspolitische Dimension der ursprünglichen Loccumer Reformvorschläge nicht schweigen. Luca von Bogdandy und Florian Forster nahmen vor fast genau einem Jahr im Beitrag „Loccum 2.0? Loccum 1.0 ernst nehmen!“ eine Vermessung des Bezugsrahmens vor. Eine solche Reform würde weit über Prüfungsspezifisches hinausgehen: Die juristische Ausbildung bestünde nicht nur in der Befähigung zum Richteramt, sondern vermittelte zusätzlich die Fähigkeit zum aktiven Hinterfragen der juristischen Tätigkeit und ihrer Folgen. Im Hinblick auf die Verwundbarkeit unserer Demokratie gehört hierzu beispielsweise die praktische Untersetzung von § 5a Abs. 2 DRiG. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem der SED-Diktatur wäre als alle Rechtsmaterien betreffendes didaktisches Prinzip aufzunehmen. Denn es ist das Bewusstsein dafür zu schaffen, was bei der Anwendung von juristischen Methoden stets zu reflektieren ist: Die Rückkopplung an die Menschenwürde, die als Lehre aus dem NS-Unrecht in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Nur wenn dies geschieht, bringt die juristische Ausbildung Personen hervor, denen die Rechtsprechung gem. Art. 92 Satz 1, 1. HS GG anvertraut werden darf.