31.08.2024

»Warte nicht auf bessere Zeiten« - Die Linke und das Bündnis der Progressiven

[Parteien] In einem Positionspapier erörtere ich die Lage der Partei Die Linke und unterbreite Vorschläge für ein Bündnis der Progressiven.

»Warte nicht auf bessere Zeiten«, textete Wolf Biermann 1974. Zwei Jahre später, ich war fast auf den Tag genau neun Monate, wurde Biermann ausgebürgert. Es war eine (kultur)politische Zäsur und Ausgangspunkt sowohl einer Welle der Solidarität unter den Bedingungen der Diktatur als auch einer weiteren Welle des Weggangs sozialistischer Intellektueller, die nicht mehr auf bessre Zeiten warten wollten.

Stefan Reinecke nimmt in der taz am 19. August 2024 in einem Kommentar über die Linkspartei das Lied von Biermann in neuer Form auf: Wartet nicht auf bessere Zeiten, wartet nicht auf euren Mut. Denn die Perspektive der Linkspartei könnte, sollte, müsste darin bestehen, immer noch oder wieder da zu sein, wenn sich der Wind wieder dreht. Nicht auf bessere Zeiten warten und gleichzeitig realistisch gesehen das Wurzelwerk erweitern, vertiefen und wieder wachsen. Kein schlechtes Bild.

Die Partei DIE LINKE. steckt in der Krise – seit Jahren. Auf stetig sinkendem Niveau in der öffentlichen Zustimmung und erodierenden Ressourcen folgt ein Neustart dem nächsten. Eine Vielzahl von Positions- und Strategiepapieren beschreibt, weitgehend übereinstimmend, die Ausgangslage, differiert in der Ursachenbeschreibung und widerspricht sich häufig in der Benennung der Lösungsvorschläge.

Zuletzt vor etwas mehr als zwei Jahren, im April 2022, diskutierte auch ich vor dem Erfurter Bundesparteitag im Strategiepapier »Steh auf, wenn du am Boden liegst« die Ausgangslage einer »politisch insolventen« Partei. Ich war seinerzeit der Auffassung, dass DIE LINKE die »politische Insolvenz« erklären sollte. Zur Erinnerung, mit der Insolvenz ist nicht zwangsläufig das Ende eines Unternehmens verbunden, sondern eine Krise des bisherigen Geschäftsmodells, mit dem Ziel ihrer Überwindung. Erfolgreiche Insolvenzverfahren führen zu gesundeten Unternehmen, nicht zu deren Zerschlagung.

Deshalb schlug ich vor, um im Bild zu bleiben, den Sanierungsprozess in Eigenverwaltung vorzunehmen, da die Partei grundsätzlich alles Wesentliche mitbringen würde, durch Restrukturierung in der Lage zu sein, sowohl inhaltlich als auch innerparteilich-strukturell wieder auf eigenen Beinen stehen zu können.

Ausgehend von dieser positiven Fortführungsprognose und der Annahme, dass ein Insolvenzplan (das von mir skizzierte »Haus der Linken«) den Gebrauchswert der Partei auch künftig sichern und die innerparteilichen und außerparteilichen »Gläubiger« überzeugen würde, skizzierte ich eine erste Phase bis 2025, wobei die noch entscheidendere zweite Phase bis 2029 reichen sollte.

Seither verschlechterten sich die Rahmenbedingungen enorm. Das BSW spaltete sich ab und es zeigt sich, dass offenbar auch ohne den vormaligen Wagenknecht-Flügel innerhalb der LINKEN schwerwiegende strategische Differenzen, persönliche Animositäten zwischen Führungskräften und organisationspolitische Dysfunktionalitäten bestehen. Wir sind gegenwärtig, im Bild bleibend, mindestens im Status einer möglichen verschleppten politischen Insolvenz und der Gefahr der politischen Zwangsinsolvenz. Dabei würde die Fortführung des Geschäftsbetriebs in Frage stehen.

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„Olympia Schreibmaschinen« in Wilhelmshaven befand einst, der Computer werde keine Konkurrenz für die bewährte Schreibmaschine sein. Heute siedeln auf dem ehemaligen Fabrikgelände neue Firmen aus anderen Branchen. Start-up würde man sie nennen. DIE LINKE sollte sich deshalb kein Beispiel an »Olympia Schreibmaschinen« nehmen und versuchen, wieder elektronische Schreibmaschinen auf den Markt zu werfen“, kommentierte Paul Wellsow zu einer früheren Fassung dieses Papiers.

Aus der »politischen Insolvenz« in Eigenverwaltung erfolgreich herauszukommen, bedeutet also einen Bruch. Radikal und kompromisslos. Auf die früher erfolgreichen Evergreens, Alleinstellungsmerkmale und die anderen verschiedenen »Zurücks« können wir nicht mehr vertrauen.

DIE LINKE muss sich als politisches Start-up verstehen. Neues Selbstverständnis, neues »Geschäftsmodell« und neue, insbesondere auch digitale Arbeitsweisen bei ernsthafter Gemeindearbeit[1]. Das Ganze beginnt bei der Frage: Wer wollen wir als DIE LINKE künftig sein und für bzw. mit wem? Zur Erinnerung – die Frage muss nach vorn gerichtet beantwortet werden, nicht als legitimierender Rückgriff auf die verschiedenen »Zurücks«. Denn die führten in die politische Insolvenz, aus der herauszukommen, das Ziel ist. Deshalb scheiden zwei »Geschäftsmodelle« aus:

  1. Der Versuch, sich als eine Art politisch-linkes Franchise zu verstehen und eklektizistisch die jeweils gerade populäre linke Formation (KPÖ in Graz und Salzburg; Nouveau Front Populaire; Partij van de Arbeid van België etc.) zu kopieren, wird nicht erfolgreich sein. Jede Situation ist konkret und politische Praxen entstehen aus jeweils spezifischer politischer Kultur, Rechtsrahmen etc.
  2. Das Bemühen, in die »Unternehmensnachfolge« einer anderen Partei einzutreten. Ich beschreibe weiter unten, warum dies in der Vergangenheit nur partiell tragfähig, langfristig Teil des Problems, statt der Lösung war und sich seit dem Eintritt des BSW in das Parteiensystem endgültig erübrigt hat.

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Unabhängig von persönlicher Sympathie ist mir der Austausch mit Sozialdemokrat:innen, Grünen, parteiungebundenen Menschen im weitesten Sinne linksliberaler Provenienz deshalb so wichtig, weil ich überzeugt bin, dass wir nicht nur gegenwärtig aber insbesondere in dieser Zeit einen breiten Fokus einstellen müssen, den Carsten und ich mit dem Begriff der »Progressiven« umschreiben. Ich gehe darauf untenstehend noch einmal genauer in der Forderung nach einem Bündnis der Progressiven ein.

Mein weites plurales progressives Verständnis ist das Gegenteil der linken Bemühungen um »Alleinstellungsmerkmale«. Mir widerstrebt sowohl der daraus abgeleitete und häufig überhobene Wahrheitsanspruch, als auch das Bemühen, statt eine plurale, progressive gesellschaftliche Koalition zu bilden, die jeweilige politische Konkurrenz im Feld der Progressiven der Links- bzw. Rechtsabweichung zu überführen. Es ist die Bereitschaft, Progressivität als Vielfalt nicht nur zu verstehen, sondern auch zu leben – auch um den Preis, die eigene politische Individualität einzubetten in ein »progressives Wir«. Das ist die eine Ebene.

Auf der anderen Ebene geht es noch einmal um das Spannungsfeld der Heute-Morgen-Konfliktachse. Wie gezeigt lehrt uns die Demoskopie, dass ein mehrheitlicher Teil der Bevölkerung der Überzeugung ist, der nachfolgenden Generation werde es nicht besser, sondern schlechter gehen als der vorherigen. Die Demoskopie lehrt uns zudem anhand u.a. des jährlich erhobenen Thüringen Monitors ebenfalls zwei wichtige Unterscheidungen. Drei Viertel der Thüringerinnen und Thüringer sind überzeugt davon, dass die Demokratie die beste Staatsform ist. Aber vom Funktionieren der Demokratie sind mehr als die Hälfte der Befragten nicht überzeugt. Der Bewertungsmaßstab ist dabei nicht der prozedurale Ablauf demokratischer Verfahren, sondern die Ergebnisse demokratischer Regierungspolitik.

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Wer sich heute für die Demokratie einsetzt, ist zurecht davon überzeugt, dass nur sie den Rahmen und die Chance bietet, auszuhandeln, wie der Wohlstand gerecht verteilt, wie soziale Sicherheit gewährleistet, wie Chancen auf individuellen Aufstieg organisiert und wie im Einklang mit den planetaren Grenzen gelebt werden kann. In aller aktuellen Widersprüchlichkeit. Dabei geht es nicht bloß um die Verteidigung des Bestehenden, sondern immer auch um den verändernden Eingriff im Interesse der Vielen. Die dafür wesentlichen politischen Erzählungen sind in den kollektiven Erinnerungen der sozialen Milieus bereits angelegt.

Dafür braucht es eine Freiheit, die auf gemeinsam vereinbarten Regeln beruht, eine Gerechtigkeit, die nachhaltig den Ausgleich zwischen den verschiedenen sozialen Lebenswelten und Teilhabechancen gewährleistet, und eine Solidarität, die über die verschiedenen Milieus und Klassen hinweg Gemeinschaft – und damit Gesellschaft – überhaupt erst ermöglicht.

In den jüngsten Krisen unserer Zeit, während der Pandemie oder zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine war zu sehen, dass unsere Gesellschaft bereit ist zu teilen und zu helfen. Praktische Solidarität ist möglich. Jeden Tag erleben wir aufs Neue, dass Menschen ins Gespräch darüber einsteigen, was ihnen am Status Quo nicht gefällt und was sie ändern wollen würden. Sinn hat das alles nur, wenn sie zugleich – und sei es kontrafaktisch – unterstellen, dass dieser Kraftaufwand auch wirklich etwas verändern kann.

Vor diesem Hintergrund sind meine bisherigen Überlegungen aber auch nachfolgenden Schlussfolgerungen eben kein Abgesang oder eine gar eine Abrechnung mit der Linkspartei. Sie sind stattdessen nicht weniger als der Versuch, die Perspektive der Partei DIE LINKE im Rahmen der gesellschaftlichen Linken, der Progressiven zu beschreiben.

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In der schwedischen sozialistischen Bewegung wird der Begriff des »Volkshaus« als ein Symbol und eine Einrichtung verstanden, die zentrale soziale, kulturelle und politische Funktionen in der Arbeiter:innenbewegung erfüllte. Diese Häuser spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung der skandinavischen sozialistischen Bewegung und waren ein Ort der Gemeinschaft und des Engagements für die arbeitende Klasse. Das »Volkshaus« war mehr als nur ein Gebäude – es war ein Symbol für die Selbstorganisation und den Gemeinschaftssinn der Arbeiter:innenklasse. Es repräsentierte die Ideale der Solidarität, des gemeinsamen Fortschritts und der Emanzipation durch Bildung und Kultur. Das »Volkshaus« ist, wenn auch unter veränderten Rahmenbedingungen, aktuell und relevant, wenn auch seine Rolle und Bedeutung sich im Laufe der Zeit verändert haben. Das »Volkshaus« bleibt eine lebendige und dynamische Institution in Skandinavien, die weiterhin wichtige soziale, kulturelle und politische Funktionen erfüllt. Während sich ihre Rolle im Laufe der Zeit verändert hat, bleibt das grundlegende Ziel, die Gemeinschaft zu stärken und soziale Gerechtigkeit zu fördern, bestehen.

Das »Volkshaus« umfasst freilich mehr als nur die eine Partei. Es wäre ein Anspruch, der offen ist. Er bedeutet, das Werkeln am 130 Jahre alten Richtungsstreit des Sozialismus – Reform oder Revolution – aufzulösen. Denn die stetige Suche nach dem Übergang, der großen Transformation provoziert den Übergang letztlich selbst. Worum es hier und heute gehen muss, ist das »Volkshaus« offen, modular zu denken. Zunächst als parteipolitisches Ziel, offen für eine Bündnispolitik, die letztlich offen und bereit für Bündnisse und Plattformen der Progressiven, in denen auch das Zusammengehen mit anderen Parteien und Organisationen als möglich angesehen und tatsächlich auch gedacht wird.

»Wie wollen wir leben?« - diese Frage stellte schon Walter Gropius, der Mitbegründer des Bauhauses und diese Frage würde auch uns prägen bei der Umnutzung des »Haus der Linken« als »progressives Volkshaus«. Es ist, im Bild bleibend, ein politisches Baudenkmal, dessen Fundament hinreichend stabil und Bausubstanz Potenzial für die Um- und Nachnutzung hat. Soll das »Haus der Linken« zum »Volkshaus« werden, muss der Grundriss vollkommen neu an den Nutzer:inneninteressen ausgerichtet werden. Dazu gehört übrigens auch, dass dieses neue Haus mit den modernsten Techniken und Methoden der politischen Arbeit und Kommunikation ausgestattet und die darin leben mit ihnen arbeiten wollen müssen, die zur Verfügung stehen.

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