24.12.2023
Rezension

Kultur des Antifaschismus

In manchen Leben spiegelt sich ein Zeitalter. Das Leben des niederländischen Journalisten und Antifaschisten Nicolaas (Nico) Rost war geprägt vom »Zeitalter der Extreme«, wie der marxistische Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte.

Nico Rost, 19 Jahre früher als Hobsbawm in Groningen geboren und 1967 in Amsterdam verstorben, steht im Zentrum der 2023 im Göttinger Wallstein-Verlag erschienen Promotion von Markus Wegewitz, die dennoch keine klassische Biographie zu sein beansprucht.

Vielmehr geht die Untersuchung »der Frage nach, wie Antifaschismus als Erfahrungsdispositiv, Lebensentwurf und intellektuelle Position in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verstanden werden kann« (S. 8). Methodisch wird dabei »ein biografie- beziehungsweise lebensgeschichtlicher Ansatz verfolgt« (S. 18). Die Lebensgeschichte von Nico Rost ist insoweit die Folie, auf der »soziale Kontexte, Ideenwelten, organisationale Zugehörigkeiten und Diskurse des Antifaschismus im 20. Jahrhundert« (S. 16) verdeutlicht werden, wie der Autor in der Einleitung darlegt.

Der Anspruch an seine lesenswerte Studie ist es, in den Worten Wegewitz‘, »in der Pluralität der Antifaschismen einen Antifaschismus nachzuzeichnen und dabei auf einige der relevantesten Ideen, Organisationsformen, Erinnerungsmuster und Bestandteile der politischen Kultur einzugehen, welche die Konfrontation der europäischen Linken mit dem Nationalsozialismus hervorgebracht hat«. (S. 16)

Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl der Bezug zu kommunistischen politischen Organisationen als auch der Gedanken der »Volksfront«, dem letztlich gescheiterten Narrativ eines egalitären Bündnisses aller Gegner:innen von Faschismus und Nationalsozialismus. Der Fokus liegt jedoch auf der »Politisierung des Kulturlebens […] insbesondere der deutschsprachigen Schriftkultur, die als humanistisches Gegenbild zum Nationalsozialismus essentialisiert, als zivilisatorische Errungenschaft verteidigt und als politisches Argument gewendet wurde« (S. 16). Und einen von den handelnden Akteur:innen internalisierten Antifaschismus als Selbstverständnis und Lebensentwurf, das Brüche überspannte.

Nico Rost war Journalist für niederländische und belgische Zeitungen, publizierte aber auch in deutscher Sprache, darunter in der »Weltbühne«. Durch seine Übersetzungen machte er die Werke progressiver Schriftsteller:innen wie Anna Seghers, Hans Fallada, Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger in den Niederlanden bekannt. Er übersetzte auch Egon Erwin Kisch, dessen Reportagen Vorbild eigener Tätigkeit wurden. Seine politischen Reportagen stellte er in den Dienst der kommunistischen Solidaritätsbewegung und des Kampfes für die spanische Republik. Seine KZ-Aufenthalte, zunächst in Oranienburg bei Berlin und später in Herzogenbusch und Dachau verarbeitete Rost in der Reportage »Brief uit een concentratiekamp« (Brief aus einem Konzentrationslager) und »Goethe in Dachau«, in dem seine Erinnerungen in Form eines Tagebuches erschienen. Rost, der 1949 auf eigenen Wunsch mit seiner Frau in die DDR übersiedelte, geriet wie viele andere Antifaschist:innen im Zuge der osteuropäischen stalinistischen Nachkriegsschauprozesse, unter Verdacht und wurde letztlich zwangsausgesiedelt. Nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 brach er mit dem Parteikommunismus. Seine politische und publizistische Tätigkeit widmete er bis zum Lebensende der Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur. Im Mittelpunkt standen die Shoa, der Einsatz für die Anerkennung der Roma und Sinti als Opfergruppe des Nationalsozialismus sowie die Errichtung der Gedenkstätte Dachau, u.a. als Mitglied im »Internationalen Dachau-Komitee«.

Dass die Untersuchung von Wegewitz als Promotion im Rahmen seiner Forschungsarbeit zwischen 2017 und 2020 am interdisziplinären Europäischen Kolleg der Universität Jena entstand, geht nicht zu Lasten ihrer Lesbarkeit. Bedauerlich ist allein, dass im zweiten Drittel der Publikation die Bemühungen des Lektorats an Intensität vermissen lassen. Dies wäre in einer zweiten Auflage zu korrigieren.

Der mit Literaturverzeichnis und äußerst nützlichem Sach- und Personenregister 471 Seiten starke Band umfasst sechs Kapitel, in denen anhand der Lebensstationen Nico Rosts eine Kulturgeschichte des Antifaschismus detailreich, nachvollziehbar und quellenkritisch erzählt wird.

Das erste Kapitel »Antifaschismus in der Weimarer Republik. Geschichte einer Politisierung, 1919-1933«, mit seinen vier Unterkapiteln führt die Leser:innen in das Nachkriegs-Berlin und das intellektuelle Kaffeehaus-Milieu, zu dem Nico Rost Kontakte knüpfte und aus dem »mehr als 130 Artikel, Reportagen und Miszellen bis zum Ende der Weimarer Republik« entstehen sollten (S. 39).

Wegewitz zeichnet anhand des sich zunehmend weiter verzweigenden Netzwerks des Literaturjournalisten Rost, ein zeitgenössisches Porträt der linken Intellektuellen und ihrer Zeitschriften. Deutlich wird der Einfluss des Expressionismus nicht allein als Kunstform, sondern als Ausdruck der Lebensart seiner Protagonisten. Der tschechische Journalist Egon Erwin Kisch, John Sinclair und John Reed übten mit ihren sozialkritischen und politisch engagierten Reportagen enormen Einfluss auf Rost aus, der »die Tradition des engagierten Schreibens auch für das eigene Arbeiten fruchtbar zu machen« suchte (S. 43).

Rost durchläuft eine Politisierung im Umfeld kommunistischer Organisationen, mit Wirkung auf seine Themenwahl, die zunehmend »durch die Kampagnen der Komintern, der KPD und der mit ihr verbundenen Prominenz unter den Berliner Kulturschaffenden bestimmt wurden«. (S. 47) Er wird, seiner bürgerlichen Herkunft zum Trotz, Teil der proletarischen Bewegungen und letztlich der 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. Auch Eric Hobsbawm tritt noch als Schüler in den Endwirren der Weimarer Republik der Kommunistischen Jugend bei und 1936, bereits in Großbritannien lebend, formell der Kommunistischen Partei.

Auf dem rechten Auge blind: Republikschutz und Antisemitismus

Den Einfluss und die wirkmächtige Intervention in den öffentlichen Diskurs beschreibt Wegewitz im Unterkapital „Die Internationale Arbeiterhilfe als Aktionsraum von Antifaschismus und Solidarität“. Beschrieben wird der außerordentliche massenkulturelle Einfluss, den ein crossmediales Netzwerk aus Film, Rundfunk und Zeitschriften unter der Leitung des in Erfurt geborenen herausragenden Organisators und Propagandisten Wilhelm (Willy) Münzenberg ausübte. »Als experimentierfreudige Aktionsform, die mit modernen Mitteln der politischen Kommunikation arbeitete, bildete die IAH die Basis zahlreicher transnationaler Kampagnen, die unter anderem die politischen Gefangenen im System der deutschen Justiz zum Thema hatten« (S. 69). Eingesetzt wird sich sowohl für die beiden US-amerikanischen Anarchisten Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti als auch in Deutschland für Johannes R. Becher.

Wegewitz zitiert den Theaterkritiker Alfred Kerr, der im Rahmen der von der Roten Hilfe Deutschland (RHD) initiierten Kampagne zum Stopp des nach dem »Gesetz zum Schutz der Republik« angestrengten Verfahrens wegen Hochverrats formulierte: »Johannes R. Becher, das bist Du und Du und Du, das sind morgen wir alle«. Gegenstand des vorgesehenen Prozesses war Bechers zweiter Roman »Levisite oder Der einzig gerechte Krieg«. Vor dessen Erscheinen hatte die Weimarer Justiz bereits zwei seiner Schriften beschlagnahmt und Becher im August 1925 festgenommen aber später wieder freigelassen. Zu dem Prozess kam es aufgrund einer Generalamnestie des Reichskanzlers Hermann Müller nicht mehr.

Das Vorgehen gegen den kommunistischen Künstler bestätigte die von der KPD bereits drei Jahre zuvor bei der parlamentarischen Beratung über das sogenannte Republikschutzgesetz formulierten Befürchtungen, dass die Instrumente des Kampfs gegen rechts sich früher oder später (auch) gegen links richten würden.

Das »Gesetz zum Schutze der Republik« entstand in der Folge einer ganzen Reihe von Mordanschlägen auf linke, liberale und katholische Politiker und als direkte Reaktion auf die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 durch zwei Mitglieder der rechtsextremen »Organisation Consul«.

Am 25. Juni 1922 schleuderte der katholische Zentrumspolitiker Joseph Wirth unter dem Beifall der Abgeordneten der Mitte und der politischen Linken und von den Besuchertribünen den Abgeordneten der politischen Rechten entgegen: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!«

Reichspräsident Friedrich Ebert erließ am Folgetag sowie am 29. Juni 1922 die zwei »Verordnungen zum Schutz der Republik«, die sich gegen antirepublikanische Druckerzeugnisse, Versammlungen und Vereinigungen richteten. Sie beinhalteten auch die Errichtung eines »Staatsgerichtshofs zum Schutz der Republik«. Der Inhalt der Verordnungen sollte schnellstmöglich in Gesetzesform gebracht werden. Um den Gesetzentwurf, der letztlich mit breiter Mehrheit aber gegen die Stimmen der KPD und der DNVP beschlossen wurde, entbrannte eine heftige Diskussion, insbesondere um dessen (Nicht-)Anwendung durch die bayerische Regierung.

Das Gesetz enthielt neue Strafbestimmungen und sah Verbote republikfeindlicher Vereinigungen, darunter der »Organisation Consul« und des »Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes« und die Beschlagnahmung entsprechender Druckschriften vor. Das Gesetz war bis 1929 und in seiner Nachfolgeregelung bis 1932 in Kraft.

Die Zeitschrift »Kritische Justiz«, entstanden 1968 aus den Neuen sozialen Bewegungen und gefördert von Fritz Bauer, widmete sich in Heft 2/2023 den »Konjunkturen des Staatsschutzes. Die Justiz und der Schutz von Republik und Verfassung (1922-1972-2022)« durch Dokumentation von Beiträgen der gleichnamigen Jahrestagung des »Forum Justizgeschichte«.

Festgestellt wird in der Einleitung zum Heftschwerpunkt, »die Judikative legte den Republikschutz etatistisch aus und sanktionierte die Herabwürdigung des Staates, nicht die Verunglimpfung der verfassten Demokratie (>hühnereigelbe Judenrepublik<). Die Angriffe auf die Weimarer Republik von Rechtsaußen lagen auf der nationalen Linie, mit der auch weite Teile der Richterschaft sympathisierten: Restauration und Aufrüstung. Sogar Fememorde und rechte Putschversuche wurden milde bestraft.« (S. 162) Ganz anders hingegen der Blick nach links: »Während indes die Weimarer Justiz die Staatsfeindlichkeit nur im Einzelfall annahm, schien sich diejenige der KPD fast von selbst zu verstehen: Seit 1925 galt ihre Politik als Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens« (S. 161).

Christoph Schuch, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Antisemitismus und Justiz« an der Humboldt-Universität Berlin macht in seinem Beitrag auf die bisher bestehende Forschungslücke des »Zusammenhangs von Antisemitismusbekämpfung und Republikschutz durch die Weimarer Gerichte« (S. 165) aufmerksam und präsentiert erste Erkenntnisse.

Jüdisches Leben in der Weimarer Republik waren von starker Ambivalenz gekennzeichnet. Während die Novemberrevolution 1918 und die Verfassung der Republik 1919 einen Aufbruch jüdischer gesellschaftlicher Aktivität beflügelte und Optimismus hervorrief, radikalisierte sich der Antisemitismus. »Es wurden Sündenböcke für Kriegsniederlage und Krisen gesucht. Der Antisemitismus – vor allem auftretend als christlicher Antijudaismus, antisemitische Verschwörungstheorien sowie völkisch-rassistischer Antisemitismus« (S. 166) sind laut Schuch nicht als Kontinuität, sondern als dessen Radikalisierung zu verstehen.

Dieser radikalisierte Antisemitismus äußerte sich in der Propaganda und in der Tat. »Dazu gehörten alltägliche Übergriffe, Boykottaufrufe und zahlreiche politische Morde aus antisemitischen Motiven« (S. 167). Gegenwehr zu dieser Entwicklung leistete insbesondere der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, dessen Tätigkeit z.B. auf der Webseite www.centralverein.net dokumentiert ist. Rechtsberatung und Kontakte zu staatlichen Stellen sowie Klagen vor Gericht machten einen Großteil dieser Tätigkeit aus.

Die Bilanz von Schuch fällt niederschmetternd aus: »Von ernsthafter Antisemitismusbekämpfung, gar im Zusammenhang mit dem Republikschutz kann hier nicht die Rede sein. Antisemitismus und Republikfeindschaft lagen eher wie zwei durchlöcherte Schuhe vor der einfachen Gerichtsbarkeit. […] Das Antisemitismusverständnis der Richter, die auch selbst antisemitisches Gedankengut reproduzierten, war am Ende zu sehr im antisemitischen Denken der Mehrheitsgesellschaft verankert.« (S. 170/174)

Jüdisch-linke Hochschulgruppenarbeit

Der verbreitete Antisemitismus in der Richterschaft der Weimarer Republik wurzelte in einem regressiven akademischen Milieu der Kaiserzeit. Die ökonomischen Verwerfungen der 1870er Jahre hatten den Fortschrittsoptimismus der Gründerzeit und des nationalliberalen Bürgertums erschüttert. Dies beförderte eine politische Tendenzwende der Gebildeten hin zu einer antiliberalen, nationalchauvinistischen und schließlich antisemitischen Bewusstseinsform. Die Verluste an Privilegien und Einfluss im Vergleich zur Kaiserzeit führten - eine Generation später - dieses Bildungsbürgertum erneut in die Gegnerschaft zur Moderne und zur neuen Staatsform der Republik.

In die Universitäten der jungen Republik strömten häufig traumatisierte Kriegsheimkehrer, Vertriebene und durch die Öffnung der Hochschulen erstmals auch eine vergleichsweise große Zahl von Studentinnen. Die Wirtschaftskrise führte zu akademischer Massenarbeitslosigkeit, während die Inflation die Vermögen der Mittelschichten ruinierte. Die sozial-psychologische Wirkung der Nivellierung sozialer Statusunterschiede und der befürchtete Verlust tradierter elitärer gesellschaftlicher Position führte zu erneuter Radikalisierung. Offen zur Schau gestellte Republikfeindlichkeit, unverhohlene antisemitische, völkisch-nationalsozialistische Agitation und die Gründung von Stahlhelm-Hochschulgruppen sowie Wehrsportgruppen illustrieren das seinerzeitige Klima an den Hochschulen. Republiktreue, liberaldemokratische Studierende waren ebenso in der Minderheit wie sozialistische oder kommunistische Hochschulgruppen.

»Die frühe antifaschistische Organisierung linker Student*innen am Ende der Weimarer Republik und die Beteiligung jüdischer Studierender am Kampf >gegen Faschismus und Hochschulreaktion< an den Universitäten ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten«, stellt Marion Keller in der Einleitung ihres Beitrags über »Jüdinnen und Juden in linken Hochschulgruppen am Ende der Weimarer Republik« fest (S. 59).

Enthalten ist der Aufsatz Kellers in Band 3 der von Riccardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis herausgegebenen Reihe über Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, deren Band 1 und Band 2 bereits auf diesem Blog als wichtige Grabungsarbeiten besprochen wurden.

Im Mittelpunkt der Betrachtungen Marion Kellers stehen die »Roten Studentengruppen« (RSG) und ihre jüdischen Aktivist:innen, insbesondere an der Universität Frankfurt am Main. Eine umfangreichere Betrachtung erschien bereits in Heft 2/2022 von »Arbeit – Bewegung – Geschichte: Zeitschrift für historische Studien«.

»Die Roten Student:innen jüdischer Herkunft kamen wie die anderen Mitglieder der RSG meist aus bürgerlichen und gutsituierten Familien. […] Im Hinblick auf ihre Jüdischkeit waren sie sehr heterogen. Sie kamen sowohl aus assimilierten Familien, in denen Religion keine Rolle spielte, als auch aus traditionellen Familien, in denen sie den jüdischen Traditionen gemäß erzogen worden waren« (S. 61f.) Ein großer Teil von ihnen war durch die jüdische oder sozialistische Jugendbewegung sozialisiert.

Die RSG waren ein überparteilicher Zusammenschluss der Hochschulgruppen links der SPD und des ihr nahestehenden Sozialistischen Studentenbundes (SDStB). Damals wie heute bestimmten weniger parteipolitische Dogmen als vielmehr die politische Orientierung der jeweils handelnden Akteur:innen die konkrete Ausrichtung der jeweiligen Hochschulgruppenpolitik. Gleichwohl war der über die KPD hinausgreifende Organisierungsanspruch der RSG auch ein Pluralisierungsmoment, der es ihr, wie Keller am Beispiel der Universität Frankfurt am Main zeigt, ermöglichte, sich jenseits kommunistischer Parteidoktrin zu positionieren. So arbeitete die RSG in Frankfurt auch mit sozialdemokratischen Studierendengruppen zusammenzuarbeiten. »Dies war möglich, weil zu diesem Zeitpunkt in der RSG diejenigen tonangebend waren, die politisch der KPD-Opposition (KPD-O) nahestanden und wie diese der von der KPD seit 1928/29 propagierten Sozialfaschismusthese nicht folgten.«

Volksfront und Widersprüche

Trotz der gemeinsamen Erfahrungen des proletarischen Selbstschutzes in Folge des Kapp-Putsches blieben diese Formen einer die Arbeiterorganisationen übergreifenden antifaschistischen Zusammenarbeit bekanntlich vereinzelte Ausnahmen. Weder die KPD noch die SPD und der ihr nahestehende ADGB waren aufgrund ihrer erbitterten Rivalität in der Lage, eine antifaschistische Zusammenarbeitspraxis zu entwickeln.

Gleichzeitig gab es, wie sowohl Marion Keller als auch Markus Wegewitz in ihren Untersuchungen zeigen, eine antifaschistische Praxis und ein antifaschistisches Bedürfnis. Marion Keller ist es verdanken, dass sowohl die Tätigkeit linker Hochschulgruppen als auch die Aktivitäten jüdischer Linker dem Vergessen entrissen wird. Wegewitz beschreibt diese Zeit im Unterkapitel »Das lange Ende der Weimarer Republik. Ferne und Nähe der nationalsozialistischen Gewalt«.

Auch Nico Rost vollzog, entgegen dem verheerenden kommunistischen Diktum des »Sozialfaschismus« und angesichts des Aufstiegs der NSDAP in Deutschland, die Hinwendung des linken Spektrums der Weimarer Republik zum Antifaschismus mit. Eine überparteiliche, die Linksliberalen und Arbeiterparteien einbeziehende Volksfront-Politik verblieb jedoch bis Anfang der 1930er Jahre außerhalb der von Moskau vorgegebenen und in den Mitgliedsparteien der Kommunistischen Internationale (Komintern) praktizierten Linie, »die den Gedanken einer die politischen Lager übergreifenden Strategie gegen den Nationalsozialismus erst ernsthaft erwog, als Hitler schon an die Macht gekommen war« (S. 16). Eine antifaschistische Praxis im Sinne die Grenzen der Arbeiterparteien überwindenden Volksfront wurde, wie Wegewitz im weiteren Verlauf seiner Untersuchung im Kapitel 2 »Ungleiche Waffen. Antifaschistische Kultur im Exil, in der Ära der Volksfront und im Widerstand, 1933-1943« mit drei Unterkapiteln darlegt, ein prägendes und bestimmendes Motiv im Leben von Nico Rost. Ebenso wie bei Eric Hobsbawm, der die Ära der Einheits- und Volksfront als die sein strategisches Denken und Handeln bis ins hohe Alter bestimmende Phase beschrieb.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten ließ die Komintern in den Jahren ab 1933 die Sozialfaschismus-These zugunsten der Volksfront-Strategie fallenlassen. Dadurch wurde theoretisch eine Pluralität des Antifaschismus jenseits kommunistischer Dogmen möglich. Die, worauf Wegewitz hinweist, freilich auf Sand gebaut war. Denn in der UdSSR liefen parallel zur Proklamation der Volksfront »bereits die Vorbereitungen für die massenhaften Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen des ‚Großen Terrors‘, dem ab 1936 auch tausende Schriftsteller:innen und Intellektuelle zum Opfer fielen« (S. 117).

Dies ist nicht der einzige Widerspruch der Volksfront-Strategie. So wichtig die antifaschistische Arbeit von Rost und anderen war, so blieb es doch bei einem »Antifaschismus der Intellektuellen, oder zumindest jener, die sich dafür hielten. Das vielgestaltige Organisationsgeflecht der antifaschistischen Koalition zielte zunächst nicht auf eine große Zahl von Mitgliedern, sondern auf eine kleine Zahl von wirksamen Exponenten ab. Die Zehntausenden nicht-prominenten, rassistisch und politisch verfolgten Flüchtlinge aus Deutschland und Italien blieben - von einigen illustrativ genutzten Beispielen abgesehen - eine Namen- und gesichtslose Masse« (S. 119).

Wie der Antifaschismus zur Massenbasis gelangen sollte, konnte die Komintern nicht beantworten, weshalb auch die »Einheitsfront von unten« halbherzig blieb, da sie weiterhin auf die Abgrenzung zu den sozialdemokratischen, bürgerlich-demokratischen Führungspersönlichkeiten und Intellektuellen setzte, »die selbst zu den Förderern des Faschismus gerechnet wurden« (Ebd.).

Erst ab 1935 wurde diese Abgrenzung aufgegeben, »ohne freilich weiterreichende organisatorische Konzeptionen anzubieten. Pläne zur Schaffung von Massenorganisationen, Hilfsaktionen für Flüchtlinge und Boykotte der nationalsozialistischen Wirtschaft wurden zunächst nicht von der Komintern, sondern durch die ASI und die internationale jüdische Protestbewegung angestoßen« (S. 120).

Exil, Spanischer Bürgerkrieg und Hitler-Stalin-Pakt

Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten besiegelt das lange Ende der Weimarer Republik. Für Nico Rost und seine antifaschistischen Weggefährt:innen ändern sich die Bedingungen ihres Lebens und Wirkens radikal. Nach dem Reichstagsbrand wird Rost kurzzeitig verhaftet, seine Wohnung verwüstet, sein Archiv geplündert. Wenige Tage später wird er erneut inhaftiert und in das provisorische KZ Oranienburg bei Berlin verbracht. Zwar kommt er wenige Tage später frei, verlässt Deutschland anschließend und geht ins Exil. Doch die »Erfahrungen, die Rost im gewaltvollen Transformationsprozess von der Republik zur nationalsozialsozialistischen Diktatur gemacht hatte, beeinflussten sein weiteres Engagement gegen den Nationalsozialismus nachhaltig. […] Aus dem zurückhaltenden Schriftsteller war ein kommunistischer Journalist geworden, der in seinem Verständnis der Kultur eine klare politische Position bezog, gelegentlich aus der Parteidisziplin ausbrach, aber fest an die Versprechen einer sozialistischen Gesellschaft glaubte« (S. 90).

Mit dem Exil beginnt eine lange Reise, die Rost zunächst in sein Herkunftsland, die Niederlande, und anschließend in seine neue Wahlheimat Belgien führt. Er berichtet über die Mobilisierung gegen den Reichstagsbrandprozess und den Verteidigungskampf der spanischen Republik.

Der Spanische Bürgerkrieg zwischen der links-republikanischen »Frente Popular« und den vom deutschen und italienischen Faschismus gestützten rechts-konservativen aufständischen Militärs entwickelte sich »zum bisher wichtigsten Kristallisationspunkt antifaschistischer Kultur und Mobilisierung« (S. 122), wie Wegewitz überzeugend anhand vieler Beispiele zeigt. Erneut gelingt ihm dabei eine Schilderung, die Personen, Orte und Ereignisse in einer Weise lebendig werden lässt, die für eine wissenschaftliche Arbeit nicht selbstverständlich ist. Deutlich wird in der Darstellung, dass und wie die sowjetischen Eigeninteressen, Kalküle und Maßnahmen stalinistischer Verfolgungsmaßnahmen »die kommunistischen Mitglieder der antifaschistischen Koalition in eine unmögliche Situation [brachte]: Das Engagement für die Volksfront geriet in Widerspruch zur sowjetischen Politik und die eigene Glaubwürdigkeit ging im zunehmenden Maße verloren, wenn einzelne Mitglieder des Bündnisses diffamiert, verfolgt, ausgesondert oder durch die sowjetische Geheimpolizei ermordet wurden« (ebd.).

Schon im Unterkapitel »Sehnsuchtsort Sowjetunion« des ersten Kapitels wies Wegewitz darauf hin, dass es für ein wirkliches Verständnis dieser Zeit und der hier betrachteten Akteur:innen unverzichtbar ist nachzuvollziehen, dass »kaum ein Phänomen […] auf die parteilich organisierten wie die ungebundenen linken Milieus Europas [ausübte], wie die Entwicklung der jungen Sowjetunion« (S. 56f.), dem sich »auch jene nicht entziehen [konnten], die als konservative oder antikommunistische Beobachter:innen nie bereit gewesen wären, sich als Unterstützer des Sowjetstaates zu erklären« (S. 57).

Er zeichnet kundig und klug sowohl die sich herausbildende Gattung der »Reiseberichte aus der Sowjetunion« nach als auch den bestimmenden Einfluss der sowjetischen Kommunistischen Partei auf die internationale kommunistische Bewegung und ihre Organisationen. Die Politik der kommunistischen Parteien und ihrer Vorfeldorganisationen hatte sich bereits seit 1921/22 den wechselnden Interessen der sowjetischen Außenpolitik ebenso wie den – bis zum Tod Lenins und dem Sieg Stalins über Trotzki noch aktiven – Fraktionskämpfen unterzuordnen.

Gleichwohl bemerkt Ilko-Sascha Kowalczuk im ersten Band seiner 2023 erschienen Ulbricht-Biographie, dass schon für den Spartakusbund, wie die aus ihm hervorgegangene KPD galt, dass ihr Kampf für den Kommunismus sie in eine Welt voller Feinde führte, in der auch die Nächsten zu Feinden werden konnten. Kowalczuks Schlussfolgerung: »Dafür brauchten die deutschen Linksradikalen weder Lenin noch Stalin, das ist der historisch-materialistischen Weltanschauung aufgrund ihrer Annahme, einem unvermeidlichen Geschichtsprozess Ausdruck zu verleihen, genetisch eingeschrieben«.

Die stalinistischen Säuberungen erfassten die internationalen kommunistischen Parteien und Organisationen. Im besten Fall über den Ausschluss von Mitgliedern oder Mitgliedergruppen, im schlechtesten Fall durch Ermordungen in der Sowjetunion oder an anderen Orten, nicht zuletzt im Spanischen Bürgerkrieg, wie Wegewitz zeigt.

Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt 1939 in dessen Folge nach dem deutschen Überfall auf Polen die Rote Armee - statt gegen Hitler vorzugehen - Ostpolen besetzte, besiegelte das Ende der Volksfront und des Antifaschismus der Komintern. Dies ging mit einer erheblichen Desillusionierung kommunistischer Antifaschist:innen einher. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts schob »die UdSSR sogar Kommunist:innen, die zuvor die stalinistischen Repressionen im Zuge des >Großen Terrors< der 1930er Jahre überlebt hatten, in das Dritte Reich und damit direkt in die Inhaftierung und häufig auch die Ermordung im Konzentrationslager [ab], während umgekehrt Menschen aus nationalsozialistischer Haft direkt in sowjetische Gulags transferiert wurden«, wie Eric Angermann et al. im Editorial zum oben bereits zitierten Heft 2/2022 von »Arbeit – Bewegung – Geschichte« (S. 14) festhalten.

Für den begnadeten kommunistischen Propagandisten Willy Münzenberg und viele seiner Genoss:innen in den inneren Zirkeln der kommunistischen Organisationen zerbrach damit ein bis dahin unerschütterliches Selbstverständnis. Der ehemalige »Sehnsuchtsort Sowjetunion« sei nun kein sozialistisches Land mehr, es verteidige lediglich »seine imperialistischen Machtansprüche mit Feuer und Schwert«, wie er in seiner Anklageschrift »Der russische Dolchstoss« vom 22. September 1939 formuliert und die mit den Worten endet »Der Verräter, Stalin, bist du! «.

Auch Wegewitz zitiert diesen Text und weist zugleich darauf hin, dass dennoch die meisten Antifaschist:innen nicht bereit waren, »sich von der Bindung an die Sowjetunion zu lösen. Während sozialistische und sozialdemokratische Parteien den Kurswechsel zum Anlass nahmen, sich vom Konzept einer allumfassenden Koalition der Gegner des Faschismus zu distanzieren, waren es vor allem die kommunistischen Antifaschist:innen, die aus Parteidisziplin, Mangel an Alternativen oder schlicht , weil sie nicht Willens waren, hinter die Propaganda zu blicken, nicht zu Distanzierungen bereit waren« (S. 136). Nico Rost, »zu involviert, um deren Dimensionen nicht zu erahnen und zu gut informiert, um die Warnungen vor der Politik Stalins zu überhören«, entschied sich zunächst für das Schweigen. Der deutsche Überfall auf die westeuropäischen Staaten trieb ihn in den kommunistischen Untergrund und eine Widerstandsarbeit, die sowohl »auf die intelligente Überzeugung des Gegners zielte [als auch] das Anliegen der Volksfront hochhielt« (S. 143).

Konzentrationslager, Häftlingsgesellschaft und Erinnerungskulturen

Flucht und Untergrundarbeit von Nico Rost werden beendet durch seine Verhaftung. Eine Odyssee durch verschiedene Gefängnisse führt ihn über das Konzentrationslager Herzogenbusch letztlich in das KZ Dachau. Dem widmet sich das dritte Kapitel »Perspektiven der Zwangsgemeinschaft. Der Weg durch die Konzentrationslager, 1943-1945« mit drei Unterkapiteln, die sich mit der »Häftlingsgesellschaft im Konzentrationslager Herzogenbusch«, »Kulturarbeit und Überleben in Dachau« sowie »Befreiung und Erwartungen an die Nachkriegszeit« befassen.

»Es begann als Terror gegen den politischen Feind und es endete mit dem Tod von Millionen Menschen. Am Anfang wütete die Rache eines Regimes, das soeben zur Macht gelangt, alle unterdrückte, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Doch dann […] entfesselte sich jene absolute Macht, die alle bekannten Vorstellungen von despotischer Willkür oder diktatorischer Gewalt sprengt: die systematische Zerstörung durch Gewalt, Hunger und Arbeit, die geschäftsmäßig betriebene Vernichtung des Menschen.« So beschreibt Wolfgang Sofsky in dem vor dreißig Jahren erstmals erschienen Werk »Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager«, das mit einer Beschreibung der Befreiung des KZ Dachau beginnt.

In sensibler Annäherung an die »moralische Ausnahmesituation« der KZ-Zwangsgemeinschaft beschreibt Markus Wegewitz den Aufenthalt Nico Rosts insbesondere im KZ-Dachau. Die ständige Sorge um das eigene Überleben in den Regeln und Hierarchien der Ordnung des Terrors einerseits und die marginalen Möglichkeiten politischer Widerstandshandlungen andererseits, die mit Abwägungsnotwendigkeiten einer »kompromittierenden Grauzone« (S. 149) einhergingen, die sich unserer moralischen Vorstellungskraft entziehen.

Wegewitz ordnet in dieser Annäherung auch Rosts Hauptwerk »Goethe in Dachau« ein: »Die nachträgliche Sinngebung der moralischen Ausnahmesituation des Konzentrationslagers durchzieht die Erinnerungsberichte der Überlebenden. […] In den als Tagebuch deklarierten Aufzeichnungen mischen sich die Erfahrungen des Konzentrationslagers mit den Interpretationen antifaschistischer Kultur der Nachkriegszeit. Es ist ebenso historisches Dokument der Geschichte der Gefangenschaft wie ihrer nachträglichen Bearbeitung« (S. 149/155). Der Wert von »Goethe in Dachau« wird, so ist Wegewitz zu verstehen, nicht dadurch geschmälert, dass es »nur an wenigen Stellen möglich [ist], das Buch als erfahrungsgeschichtliche Quelle heranzuziehen«. Er plädiert vielmehr dafür, gerade weil die heutigen Interpretationen aus Wegewitz‘ Sicht dem historischen Verständnis des Werks nicht gerecht werden, quellenkritisch zu beachten, dass bei der Bearbeitung »Rosts Erwartungen an die Nachkriegszeit eine wichtige Rolle [spielten], wenn es um die Vermittlung seines Selbstbildes, seiner Stellung zum Antifaschismus und die Entscheidung ging, welches Ereignis überlieferungswürdig war« (S. 157).

Welche Bedeutung diese Überlegungen zur Arbeit an »Goethe in Dachau« haben sollten, wird im vierten Kapitel deutlich, das mit »Neuorientierung und politische Heimatlosigkeit, 1946-1957« überschrieben ist und in wiederum vier Unterkapiteln Rosts antifaschistische Kulturarbeit beschreibt, in der Rost in Anknüpfung seiner bereits in der Vorkriegszeit gewählten Differenzierung zwischen dem Nationalsozialismus und der Bezugnahme auf die Weimarer Klassik und Romantik »das bessere Deutschland« kulturpolitisch Einfluss auf die Nachkriegszeit nimmt.

Umfassend werden seine Aufenthalte und Arbeit an »Goethe in Dachau« in Belgien, seine Übersiedlung in die DDR und die klaustrophobische Maschinerie der öffentlich gesteuerten Denunziation im Zuge der stalinistischen Verfolgungswelle beschrieben, die letztlich zu seiner Zwangsaussiedlung aus der DDR führen. Zurück in den Niederlanden wird er zu Kritik und Selbstkritik in der niederländischen KP gezwungen, der er sich, wie viele andere in vergleichbarer Situation unterwirft. Bis er sich vom Parteikommunismus lossagt, ohne sich von der Idee des Sozialismus zu verabschieden, wie Wegewitz im Unterkapitel »Heimatlose Linke« ausführt.

Auch kommunistische Häftlinge anderer Konzentrationslager erlebten in der DDR Maßregelungen bis hin zu Deportationen in den Gulag, wie das Beispiel Ernst Busse zeigt. Er war ein führendes Mitglied der illegalen KPD-Leitung in Buchenwald und dort Kapo des Häftlingskrankenbaus, Nach dem Krieg wurde er Thüringer Innenminister. Walter Ulbricht und andere KPD-Remigranten waren bestrebt, zur Sicherung der eigenen Machtbasis, den Einfluss der in Deutschland verbliebenen und im Widerstand sowie in den Konzentrationslagern überlebenden KPD-Funktionäre zu unterminieren. Ernst Busse wurde, wie andere auch, 1946/47 zum Verhalten als Funktionshäftling durch eine von Walter Ulbricht und anderen KPD-Remigranten eingesetzte Untersuchungskommission befragt. Obwohl entlastet, wurde Busse seiner Regierungsaufgaben enthoben, 1950 von der Sowjetischen Militäradministration verhaftet, erneut wegen seiner Tätigkeit im Häftlingskrankenhaus von Buchenwald verhört und letztlich deportiert. Er überlebte das Konzentrationslager Buchenwald aber nicht mehr die realsozialistische Kommunistenverfolgung. Im sibirischen Gulag von Workuta starb Ernst Busse 1952 als einer von 250.000 ums Leben gekommenen der weit über eine Million inhaftierten Frauen und Männer allein dieses Gulags.

An ihn erinnert Susanne Hantke im Nachwort zu der 1998 – vierzig Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe – erweiterten Neuausgabe des Romans »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz. Dieser Roman dürfte mit mehr als einer Million Exemplaren in der DDR und mehr als drei Millionen gedruckten Exemplaren in mehr als dreißig Sprachen der wohl bekannteste und erfolgsreichste Roman der DDR gewesen sein.

Wie Markus Wegewitz am Beispiel Nico Rost im KZ Dachau, beschreibt Susanne Hantke die Ambivalenzen, politischen Restriktionen und das Bemühen sowohl von Bruno Apitz als auch anderen Buchenwald-Überlebenden, die Anerkennung ihres Handelns in der Grauzone der Grenzen zwischen Schuld und Zwang, Widerstand und Kollaboration gegen politisch-instrumentelle Delegitimierungen zu bewahren: »Bruno Apitz begann seinen Roman unter dem Eindruck der moralischen und politischen Diskreditierung der Buchenwalder Kommunisten zu schreiben. Die Infragestellung ihres Widerstands und das Verdrängen und Verschweigen ihrer Überlebenserfahrung wurden für ihn zum Auslöser, mit der Gestaltung eines Stoffes zu beginnen, den er vermutlich schon seit längerer Zeit mit sich herumgetragen hatte.« (Hantke 1998: 538)

Hantke stellt in ihrem Nachwort überzeugend dar, dass Bruno Apitz selbst Anteil daran hat, dass man ihm und dem Roman nach 1990 in Folge bis dahin unveröffentlichter Dokumente über die soeben beschriebenen Widersprüche im KZ-Terrorsystem ein verfälschendes Bild der Buchenwalder Kommunisten vorwerfen konnte. Zugleich macht sie deutlich, dass Apitz seinerseits sowohl in den ersten Romanfassungen als auch in Interviews bemüht war, ein realistisches Bild zu zeichnen, das mit dem idealisierenden Bild kommunistischen Widerstands der herrschenden DDR-Geschichtsschreibung nicht in eins zu setzen ist.

Dieser Vorgehensweise von Susanne Hantke fühlt sich auch die Ausstellung »60 Jahre >Nackt unter Wölfen< Zwischen Mythos, internationaler Filmgeschichte und regionaler Erinnerungskultur« verpflichtet, die mit Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei sowie der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und der Sparkasse Mittelthüringen entstand und deren Ausstellungskatalog in diesem Jahr im Leipziger Universitätsverlag erschien.

Entstanden ist die Ausstellung als Ergebnis des gleichnamigen Seminars an der Universität Erfurt unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Grisko, dessen Forschungsschwerpunkt insbesondere in der DDR-Filmgeschichte und darin, dem DEFA-Drehort Thüringen liegt.

Der 118 Seiten umfassende Ausstellungskatalog ist in drei Teile gegliedert: zwei Essay-Teile, mit insgesamt 14 Essays und den knapp 50 Seiten umfassenden Katalogteil. Die knapp gehaltenen, einen Überblick gebenden Essays der Studierenden widmen sich sowohl der Erinnerungskultur in der DDR und nach ihrem Ende als auch natürlich dem Film selbst. Der Bogen wird gespannt vom »Buchenwaldgedenken in der DDR. Kontinuitäten und Wandel bis 1989« (Anna Weichmann), dem »Gedenken an jüdische Opfer in Buchenwald« (Alexander Walther) sowie »Regionale Erinnerungskultur am Beispiel des Konzentrationslagers Ohrdruf« (Christoph Mauny), dem »Heldenmythos Ernst Thälmann« (Elisa Maier) und der Buchenwalder »Gedenkarchitektur Fritz Cremers« (Emilia Paeseler) bis hin zu »Widerstand im DEFA-Film« (Paula Milena Weise) oder der »Darstellung der Buchenwaldgedenkstätte im DEFA-Film« (Helene Marie Brühl). Bemerkenswert ist der Beitrag von Kathleen Kröger, die im Essay »Dreimal >Nackt unter Wölfen< audivisuell« eine Geschichte der Verfilmung des Romanstoffs in Film und Fernsehspiel in der DDR (Georg Leipold 1960 und Frank Beyer 1963) und nach der DDR (Philipp Kadelbach 2015) erzählt. Die Wanderausstellung gastierte bislang in Berlin, Weimar, Jena, Nordhausen, Gotha und Erfurt. Es wäre ihr eine weitere Verbreitung, auch über Thüringen hinaus zu wünschen. Denn die Ausstellung stellt gewohnte Sichtweisen in Frage und bietet die Möglichkeit zu einer differenzierten Annäherung. Nicht nur an den Romanstoff selbst, sondern auch an Rezeptionsgewohnheiten gegenüber DDR-Literatur und –Filmen, mehr als dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution.

Im Hinblick auf unsere Vorstellung von den nationalsozialistischen Konzentrationslagern dominieren die Bilder aus Dachau, Auschwitz, Buchenwald oder Bergen-Belsen und überwiegt vielfach die falsche Vorstellung, sie seien an versteckten Orten außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung errichtet worden. Beides trifft nicht zu, wie Wolfgang Sofsky bereits festhielt und Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora im Vorwort zu »Eine Kurstadt und ihr Erbe. Das ehemalige Konzentrationslager in Bad Sulza« benennt: »[…] man denke nur daran, dass etwa das KZ Buchenwald am Ende fast 140 Außenlager hatte, die sich über ganz Mittel- und Westdeutschland erstreckten und vielfach inmitten der Städte lagen. Es stimmt aber auch für die frühen Konzentrationslager nicht. Auch sie befanden sich inmitten der Gesellschaft, improvisiert eingerichtet in Kellern, Werkhallen oder, wie in Bad Sulza, in einem früheren Hotel und dessen Nebengebäuden« (S. 7).

Lena Saniye Güngör, Abgeordnete der Linksfraktion im Thüringer Landtag, in deren Wahlkreis die Stadt Bad Sulza liegt, recherchierte gemeinsam mit Elisa Paschold und Kevin Reichenbach zur Geschichte des frühen Konzentrationslagers im thüringischen Bad Sulza (Landkreis Weimarer Land), in dem zwischen November 1933 und Juli 1937 rund 850 Menschen inhaftiert waren.

Entstanden ist auf 65 Seiten eine kompakte Darstellung einer wichtigen Vorläufereinrichtung des Konzentrationslagers Buchenwald. Wenn auch nicht explizit so benannt, so steht sie doch in der Tradition der kritischen Erinnerungskultur. Ausgehend von einer knappen Darstellung der Etablierung des Nationalsozialismus ab 1932 – zur Erinnerung: Thüringen war das erste Land, in dem die NSDAP formell in eine Regierung aufgenommen wurde – und der Entwicklung des Systems der »Schutzhaft«, werden die Geschichte des KZ Bad Sulza und der KZ-Alltag der Häftlinge dargelegt.

Die Publikation ist nicht allein ein Beitrag zur lokalen Erinnerungsarbeit. Inbesondere angesichts des Umstandes, dass das Gelände des vormaligen KZ, das bis 1999 als Aussiedler- sowie Kinderheim, zuletzt zur Unterbringung von Kriegsgeflüchteten genutzt wurde und seither leer steht, durch einen privaten Investor erworben und zur Wohnbebauung entwickelt werden soll.

Vielmehr werden sowohl die unterschiedlichen Häftlingsgruppen und einzelne Opferbiographien als auch die Täter:innenschaft des KZ erläutert. Eine Dokumentation der Namen aller bisher ermittelten Inhaftierten dieses frühen Konzentrationslagers entreißt sie der erzwungenen Anonymität und Entindividualisierung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der Respekt vor den Opfern, das Bemühen, Folterstätten, Orte der Zwangsarbeit und Unterdrückung aufzuspüren, ihre noch sichtbaren Spuren zu dokumentieren, steht im Mittelpunkt dieser Publikation und macht sie für die Region bedeutsam. Sie zeigt zugleich, dass an den Verbrechen des Nationalsozialismus die gesamte deutsche Gesellschaft Anteil hatte, nicht allein die NSDAP-Mitglieder (vgl. Steuwer 2019: 7).

Die Autor:innen schließen ab mit einer Darstellung der Verantwortung, die sich für die Stadt Bad Sulza auch als Profiteur der seinerzeitigen Zwangsarbeit und aus den gegenwärtigen Planungen für die künftige Nutzung des Geländes ergibt. Es bleibt zu wünschen, dass die Bereitschaft des Investors, in die Entwicklungsplanung eine angemessene Erinnerung an die Geschichte des KZ aufzunehmen, durch die Stadt und den Stadtrat ernst genommen wird.

»Die Suche nach den Lehren aus der Geschichte« überschreibt Markus Wegewitz das letzte Unterkapitel der Lebensgeschichte von Nico Rost. Dessen »Vortragstätigkeit mit der Fokussierung auf die junge Generation in Westdeutschland war für Rost Arbeit an dem von ihm vertretenen antifaschistischen Geschichtsbild. In dieser Tätigkeit gingen seine Interessen, Narrative der antifaschistischen Kultur und das, mit einigen Einschränkungen, inklusive Verständnis der Opfer des Nationalsozialismus auf. Mit seinen Themensetzungen und Erzählstrategien hatte er viele Momente vorweggenommen, die erst Jahrzehnte später in den Lehrplänen, Seminarangeboten und Didaktiken der politischen Bildung eine Rolle spielen sollten« (S. 393).

Wegewitz beschließt sein Fazit mit der Feststellung, dass auch für den Antifaschismus zu konstatieren sei, »dass die Angst vor den Folgen des Versagens seine Protagonist:innen oft begleitet hat. Das Scheitern fällt aber nicht mit der Wirkungslosigkeit zusammen. Mochte der Antifaschismus Nationalsozialismus und Krieg auch nicht verhindert haben, mochte er nach der Befreiung die Folgen und Verantwortlichkeiten für Diktaturen auch nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert haben, so zeigte er doch die Argumente und Notwendigkeiten auf, sich diesen historischen Aufgaben zu stellen. Sein Versprechen des politisch organisierten Humanismus gilt noch heute« (S. 404).

Rezensierte Literatur

Michael Grisko (Hrsg.), 60 Jahre »Nackt unter Wölfen«. Zwischen Mythos, internationaler Filmgeschichte und regionaler Erinnerungskultur, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2023 (ISBN: 978-3-9602-3529-3).

Lena Saniye Güngör/Elisa Paschold/Kevin Reichenbach, Eine Kurstadt und ihr Erbe. Das ehemalige Konzentrationslager in Bad Sulza, hrsgg. v.d. Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, Erfurt 2023.

Marion Keller, »Gegen Faschismus und Hochschulreaktion«. Jüdinnen und Juden in linken Hochschulgruppen am Ende der Weimarer Republik, in: Riccardo Altieri/Bernd Hüttner/Florian Weis (Hrsg.), Die Arbeiter*innenbewegung als Emanzipationsraum. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 3), luxemburg beiträge Nr. 16, Berlin 2023 (ISSN: 2749-0939).

Christoph Schuch, Antisemitismusbekämpfung und Republikschutz in Weimar, in: Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik (Schwerpunkt „Staatsschutz“), 56. Jg., Heft 2/2023, S. 164-175.

Markus Wegewitz, Antifaschistische Kultur. Nico Rost und der lange Kampf gegen den Nationalsozialismus 1919-1965. Buchenwald und Mittelbau-Dora Forschungen und Reflexionen Band 5, Wallstein Verlag, Göttingen 2023 (ISBN: 978-3-8353-5366-4).

 

Transparenzhinweis: Der Autor ist Vorsitzender des Stiftungsrates der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.