02.10.2024
Parteien

Wahlen in Zeiten der Unsicherheit

Rund acht von zehn Bundesdeutschen, so ermittelte infratest dimap im Januar 2024, sahen verunsichert auf das vor ihnen liegende Jahr. Nur für 13 Prozent von ihnen lieferten die Verhältnisse in Deutschland Anlass zur Zuversicht, wohingegen 83 Prozent sich beunruhigt äußerten. So wenig zuversichtlich waren die Bundesdeutschen laut dem DeutschlandTREND zuletzt vor rund 20 Jahren.

Das tiefenpsychologisch arbeitende rheingold Institut in Köln kommt in einer Untersuchung für die Identity Foundation aus dem Sommer des vergangenen Jahres zu ähnlichen Erkenntnissen. Weniger als ein Viertel der Befragten findet beim Blick auf die Politik Zuversicht, während jeder Sechste sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert fühlt. Während zwei Drittel der Überzeugung sind, dass man in Deutschland den Lebensstandard wird nach unten korrigieren müssen, vertraut ein Drittel darauf, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse wieder verbessern. Ein Anteil von gerade einmal 39 Prozent informiert sich laut rheingold Institut noch ausführlich über das Weltgeschehen. Dies deckt sich mit den Januar-Daten von infratest dimap, laut denen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten den Nachrichtenkonsum häufig oder gelegentlich vermeidet.

Auf das als bedrohlich wahrgenommene Grundgefühl im Sinne einer gesellschaftlichen »Endzeitstimmung« reagieren die Bürger:innen mit Strategien der Verdrängung und dem Rückzug ins Private: „Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel oder die Migrationskrise werden von den meisten Menschen in ihrem Alltag ausgeblendet. […] Das wirkt wie ein Vorhang der Verdrängung, der das private Leben zusehends von der öffentlichen Sphäre trennt. Lediglich die für den persönlichen Alltag relevanten Themen wie Inflation, die Energiekrise oder die zunehmende Entzweiung der Gesellschaft kommen noch in die Wahrnehmung. […] Der Fokus der Bürger wird auf die Stabilisierung der eigenen Lebenswelt gerichtet. Die drängendsten Ängste haben die Menschen daher vor einem persönlichen Autonomieverlust. Die am Beginn der Coronakrise und des Ukrainekrieges erlebten Ohnmachtsgefühle sollen sich nicht wiederholen.“ (rheingold 2023)

»Machbarkeits-Dilemma«

Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 diagnostizierte das Kölner Institut ein »Machbarkeits-Dilemma«: Angesichts einer nur als ausgesprochen gering eingeschätzten Selbstwirksamkeit, zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beitragen zu können, konzentrieren sich die Wahlberechtigten darauf, ihren privaten Alltag zu gestalten und darin Erfüllung und Selbstwirksamkeit zu finden. Die globalen und nationalen Probleme, Jahrhundertereignisse wie Hochwasser etc. werden zwar wahrgenommen als Ausdruck von notwendigen Veränderungen. Doch wird aus unterschiedlichen Gründen vor den damit verbundenen Einschränkungen und Zumutungen zurückgeschreckt. Gesucht wird deshalb einerseits nach der charismatischen Persönlichkeit, „die sich der bevorstehenden Herkulesaufgabe annimmt und sie [die Wählerinnen und Wähler] kraftvoll aus den Problemen herausführt, andererseits konstatieren sie mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung, dass es solch eine Führungsgestalt eben nicht gibt. Die vermeintliche Schwäche der Kandidat*innen entbindet die Wähler:innen davon, selbst Stärke und Konsequenz angesichts der riesigen Herausforderungen zeigen zu müssen.“

Erfolgreich sind angesichts dieser Grundstimmung mit der AfD und dem BSW diejenigen politischen Kräfte, deren Geschäftsmodell in der Bewirtschaftung von Angst besteht und die eine Vergangenheit beschwören, die als Zukunft wiederherzustellen wäre. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sieht, bei großer Distanz und Unterschieden, fünf Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien. Eine davon besteht in der Inszenierung als Anti-Grünen-Partei. So bieten sie für einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler einen bequemen Ausweg aus dem Machbarkeits-Dilemma. Indem die globalen Probleme und Jahrhundert-Herausforderungen kleingeredet oder geleugnet werden, die Bewältigung komplexer Themen durch vermeintlich einfachste Lösungen gelingen soll und suggeriert wird, „dass Deutschland nicht an den großen Weltproblemen leidet, sondern an den kleinen und selbstgemachten Problemen des political correctness, des Genderns, der Migration und der Multi-Kulti-Idealisierung, der Auflösung der traditionellen Rollenmuster oder der Klima-Hysterie“ (rheingold Institut 2021).

Die Union reagiert auf das Machbarkeits-Dilemma mit einer ambivalenten Strategie. Einerseits setzt sie sich ostentativ von der »Merkel-CDU« ab. Dafür wiederum dient die Ampel-Regierung im Bund als Projektionsfläche. In einer immer schärfer werdenden Kritik an den Ampelparteien und namentlich auch den Grünen entledigt sich die Merz-/Söder-Union des sozialkonservativen und gesellschaftlich liberalen Merkel-Erbes und kann andererseits die elektoral erfolgversprechenden Narrative der Angst-Bewirtschafter aufgreifen. Gleichzeitig suggeriert die Kritik an der Ampel-Regierung und ihren Maßnahmen zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme, dass man die gesellschaftlichen Herausforderungen letztlich doch im Merkel-Stil „entweder alternativ- und visionslos abarbeiten oder einfach aussitzen kann“ (rheingold Institut 2021).

Katastrophale Außenwirkung der Ampelkoalition

Im Vorfeld der Bundestagswahl reagierten die Wählerinnen und Wähler auf die beschriebene Ausgangslage mit dem Wunsch nach einem Stimmensplitting, um sich ihre Wunsch-Koalition zusammenzustellen. Dabei enthielt das „individuelle Koalitionsrezept drei Bestandteile:

  • Die CDU und mittlerweile auch Olaf Scholz stehen für Konstanz und für ein bewegliches Weiter so.
  • Die Grünen sollen den Wandlungs-Anspruch aufgreifen und moderate Anstrengungen gegen die Klimakrise umsetzen.
  • Die FDP soll dafür einstehen, dass dabei persönliche Frei- und Spielräume erhalten bleiben.“ (ebd.)

Die katastrophale Außenwirkung der Ampelkoalition hat diese Erwartung eines »get three for the price of one« nachhaltig enttäuscht. Acht von zehn Befragten in Brandenburg sind der Überzeugung, dass die Bundesregierung so viel streiten würde, dass im Land fast nichts mehr vorangeht. Auch knapp Dreiviertel der SPD-Wählenden sind dieser Meinung. Dies bestätigt wiederum all diejenigen, die im Scheitern der selbsternannten »Fortschrittskoalition« die Bestätigung dafür sehen, dass die Zukunft Rückwärts heißt, wie der Norweger Anders Indset in einer Kritik am Zustand der CDU auf Table Briefings formuliert, deren Überschrift lautet: „CDU: Die Werbeplattform der AfD“.

Entsprechend dramatisch nehmen sich die Ergebnisse der Ampelparteien bei den diesjährigen Europa- und Landtagswahlen aus. Alle drei Parteien verlieren – von regionalen Spezifika wie der SPD in Brandenburg abgesehen – deutlich. Dass die Ablehnung der Ampel nicht mit einer Wechselstimmung zugunsten der CDU verwechselt werden darf, lässt sich daraus ablesen, dass in Brandenburg gemäß infratest dimap gerade einmal ein Drittel der Wählenden der Meinung sind, dass CDU/CSU in der Bundesregierung einen besseren Job als die Ampel machen würden.

Das wilde Strampeln der Liberalen in der Ampel zeigt, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Zwar übersprang sie die für das Europaparlament nicht relevante Fünfprozenthürde, doch sind sie in Sachsen und Brandenburg weiterhin und in Thüringen künftig außerparlamentarisch. In allen drei Ländern erhält sie Werte um 1 Prozent. Die Partei ist neben der Bundesregierung nur noch in zwei Ländern, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, in einer Landesregierung vertreten. In beiden Ländern steht 2026 die nächste Landtagswahl an. Als die FDP vor etwas mehr als zehn Jahren erstmals seit 1949 aus dem Bundestag ausschied, beschrieb ich als eine der Ursachen die Entkopplung zwischen dem normativen Bild, das Bürgerinnen und Bürger von einer liberalen Partei zeichnen und der nur geringen Schnittmenge, die dieses Bild mit der Sicht auf die FDP aufweist. Richard Herzinger konstatierte seinerzeit in der WELT, der FDP eigneein steriler Propagandismus [an], der das idealisierte Modell einer freiheitlichen Gesellschaft der Lebenswirklichkeit Deutschlands entgegenhält und so den Eindruck eines sektenhaften Fundamentalismus vermittelt. […] Je schriller und unbedingter dieser Anspruch vorgetragen wird, umso größer sind dann freilich auch Enttäuschung und Zorn der Wähler, wenn die FDP in der Regierung wieder einmal kaum etwas davon umzusetzen in der Lage war.“ Dieses Muster hat sich seither nicht wesentlich verändert und macht die Partei auf Bundesebene verlässlich unzuverlässig. Egal ob sie nun mit der Union oder mit SPD und Grünen gemeinsam regiert.

Sowohl die regressive politische Grundstimmung als auch das Dauerfeuer von im Wesentlichen allen Parteien, am wenigsten noch der SPD, an den Grünen schufen ein Klima, dem die Partei außer Trotz und in den ostdeutschen Ländern den Aufruf zum taktischen Wählen zugunsten der Grünen nichts entgegenzusetzen hatte. In Thüringen ist die Partei erstmals seit 2009 wieder außerparlamentarisch, in Sachsen rettete sich die Partei auf 5,1 Prozent und wäre ansonsten auch durch die dortige Grundmandatsklausel in den Landtag eingezogen. Obwohl bei der 18-Uhr-Prognose noch bei 5 Prozent gemessen, verfehlen die Brandenburger Grünen am Ende mit 4,1 Prozent den Einzug in das Potsdamer Landesparlament deutlich. Auch der Wahlkreis Potsdam II kann sie nicht mehr retten – den gewinnt mit deutlichem Vorsprung die SPD.

Gesiegt hat bei allen diesjährigen Wahlen die AfD. In Thüringen ist die gesichert rechtsextreme Partei erstmals stärkste Partei. In Brandenburg und Sachsen wird sie mit deutlichem Zuwachs jeweils zweitstärkste Partei. Sowohl in Potsdam als auch in Erfurt verfügen die Rechtsextremisten über die sogenannte Sperrminorität. In Sachsen verfehlte sie diese um einen Sitz, den jedoch gegebenenfalls der eine direkt in den Landtag gewählte Vertreter der Freien Wähler auffüllen könnte. Gegen die AfD können also keine Entscheidungen bei all denjenigen Aspekten getroffen werden, in denen eine Hürde von Zweidritteln vorgesehen ist. Mit anderen Worten erhält die Partei nun Einfluss auf die Zusammensetzung der jeweiligen Verfassungsgerichte oder der Rechnungshöfe und wird ihre Einflussnahme auf die Zusammensetzung der Justiz in den Wahlausschüssen für die Richter:innen und Staatsanwält:innen verstärken können. Die unterminierende Wirkung auf die rechtsstaatlichen Säulen unserer Gesellschaft liegen auf der Hand. Die Strategie der Entlarvung der Rechtsextremist:innen gegenüber der Öffentlichkeit in Parlament und Medien kann als gescheitert angesehen werden in einem gesellschaftlichen Klima, das die Themen der AfD dauerhaft hoffähig macht und die von ihnen gesetzten Diskursverschiebungen bereitwillig mitmacht. Bei allen drei Landtagswahlen war nicht das Thema Migration wahlentscheidend, sondern vielmehr die Sorge um die wirtschaftliche Lage und die soziale Sicherheit. Doch spielte dies im medialen und öffentlichen Dauerfeuer des Überbietungswettbewerbs um eine möglichst restriktive Abschottungspolitik keine Rolle. So überrascht es nicht, dass acht von zehn AfD-Wählenden in Brandenburg der Überzeugung sind, die Partei stünde in der politischen Mitte, statt rechts. Und selbst wenn nicht, ist dies mehr als Dreiviertel der AfD-Wählenden nach eigener Aussage gegenüber infratest dimap egal, solange die rechtsextreme Partei „die richtigen Themen anspricht“.

Starke AfD - schwache Linke

So stark die AfD ist, so schwach ist Die Linke. Bei allen drei ostdeutschen Landtagswahlen verliert die sich seit Jahren im Dauerkrisenmodus befindliche Linkspartei deutlich. In Sachsen rettet sich die Partei mit zwei in Leipzig gewonnenen Direktmandaten in den Landtag, verfehlt die Fünfprozenthürde mit 4,5 Prozent aber deutlich. Ebenso wie Grünen und Freien Wählern bleibt auch der Linken in Brandenburg der Rettungsanker Grundmandat verwehrt. Sie verliert knapp acht Prozentpunkte und schlägt mit 2,98 Prozent so hart auf dem Boden auf, dass es noch lange weh tun wird. Auch in Thüringen wird die letzte verbliebene linke Hochburg geschleift. Die Partei büßt trotz des extrem populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow knapp 18 Prozentpunkte ein. Nur wenige Male stürzten Parteien in vergleichbarer Weise ab. Auf Basis der gegenwärtig vorliegenden Daten lassen sich folgende fünf Annahmen formulieren:

  1. Die Zufriedenheitswerte zwischen dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und der Partei Die Linke wiesen eine erhebliche Differenz auf. Während bei infratest dimap 51 Prozent der Befragten mit der politischen Arbeit von Bodo Ramelow zufrieden waren, bewerteten zwei Drittel (63 Prozent) die Arbeit der Partei negativ.
  2. Studien zur »strategischen Wahl« bzw. der »psychologischen Schranke« zeigen, dass Wählende in Mehrparteiensystemen dazu neigen, ihre Stimme nur dann einer Partei mit einem beliebten Spitzenkandidaten zu geben, wenn sie überzeugt sind, dass diese Partei tatsächlich eine Chance hat, entweder die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden oder eine bedeutende Rolle in der kommenden Regierung zu spielen.

Die rot-rot-grüne Minderheitsregierung war weit davon entfernt, erneut eine eigene Mehrheit zu erlangen. Unter Verweis auf ihren anachronistischen Unvereinbarkeitsbeschluss hatte die CDU wiederholt ausgeschlossen hatte, mit der Linken institutionell zusammenzuarbeiten. Auch das BSW orientierte öffentlich wahrnehmbar vor allem auf ein Bündnis mit der CDU. Dies ließ eine Stimmabgabe für Die Linke strategisch unplausibel erscheinen.

  1. Die Linke verliert in allen drei ostdeutschen Ländern in den politischen Kompetenzfeldern drastisch. Diese Verluste in der Kompetenzzuschreibung sind nicht zu externalisieren, sondern können und müssen ausschließlich innerhalb der Partei und dort wo sie noch im Parlament sitzt aufgearbeitet und überwunden werden.
  2. Hinzu kommt, dass mehr als ein Drittel der von Infratest dimap befragten Wählenden in Thüringen der Auffassung sind, Die Linke würde „in der deutschen Politik nicht mehr gebraucht“. Zwar vertraten nur drei Prozent der Linke-Wähler:innen diese Meinung, doch dürfte es bei fortgesetzter Krise und Niedergang der Linkspartei schwerfallen, diesem Eindruck der Wahlberechtigten entgegenzutreten.
  3. Hinzu kommt in Thüringen, dass laut infratest dimap bald zwei Drittel der LINKE-Wählenden (60 Prozent) angaben, ohne Bodo Ramelow nicht Die Linke zu wählen.

Die Dramatik wird nicht dadurch reduziert, dass andere Parteien vor ähnlichen Problemen stehen. Jeweils mehr als die Hälfte der Wählenden der CDU in Sachsen und Thüringen gaben an, die Union nur aus Angst vor einer noch stärkeren AfD gewählt zu haben. In Brandenburg waren dies sogar Dreiviertel der SPD-Wählenden.

Bald zwei Drittel der Thüringer, mehr als die Hälfte der sächsischen BSW-Wählenden und 50 Prozent derjenigen in Brandenburg teilten gegenüber infratest dimap mit, ohne Sahra Wagenknecht nicht BSW zu wählen. Das BSW ist neben der AfD die zweite »Denkzettel«- und Protestwähler:innen-Partei. Ein Viertel der Thüringer BSW-Wählenden sowie je ein knappes Drittel derjenigen in Brandenburg und Sachsen hätte, wenn das BSW nicht zur Wahl gestanden hätte, die AfD gewählt.

Das BSW ist bei diesen Landtagswahlen, um es auf den Punkt zu bringen, der Todesstern der Linkspartei. Gewählt wird das Bündnis in Thüringen zu 52 Prozent aus Enttäuschung über andere Parteien und in Sachsen zu 70 Prozent sowie in Brandenburg zu 63 Prozent aus Enttäuschung über die Linkspartei (infratest dimap). Das BSW gewinnt überdurschnittlich in den Altersgruppen ab 60-Jahre und älter. Umgekehrt proportional sind die Verluste in diesem Alterssegment bei der Linken am stärksten.

Zuversicht und progressives Bündnis

Während in Sachsen eine Mehrheitskoalition gebildet werden soll, ist in Thüringen – unter der Voraussetzung, dass die AfD nicht an der politischen Macht beteiligt wird – erneut nur eine Minderheitskoalition möglich. CDU, BSW und SPD verfügen über 44 der 88 Landtagsmandate. In irgendeiner Weise wird mit der Thüringer Linken eine Übereinkunft getroffen werden müssen. Auch in Brandenburg besteht ein Patt von 44 Mandaten für SPD und CDU gegenüber ebenso viel Sitzen für AfD und BSW.

Wohin die Reise in Erfurt gehen wird, ist gegenwärtig offen. Der designierte CDU-Ministerpräsident Mario Voigt glaubt, seine Koalition mit dem BSW, dessen innere Stabilität gegenwärtig mehr als offen ist, darauf aufbauen zu können, dass Die Linke im Landtag nie ein Regierungsvorhaben gemeinsam mit der AfD ablehnen würde. Dies ist ein folgenschwerer Irrtum. Denn anders als die Thüringer CDU und FDP wird Die Linke nie aktiv ein Gesetzesvorhaben mit der AfD durch den Landtag bringen wollen. Aber mit einer die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit der AfD entlarvende und gleichzeitig die Regierungskoalition kritisierenden Argumentation Vorhaben des CDU-BSW-Bündnisses abzulehnen, ist legitim und erforderlich.

Wie stabil der Grund ist, auf dem Mario Voigt und Katja Wolf stehen, muss wiederum nicht Die Linke diskutieren. Sowohl die Partei als auch die gesellschaftliche Linke haben ausreichend eigene Aufgaben zu erledigen.

Das oben beschriebene Machbarkeits-Dilemma wird verstärkt durch die verbreitete Sorge, dass es kommenden Generation schlechter haben werden als die vorhergehenden Generationen. Steffen Mau diagnostiziert eine »Veränderungserschöpfung« und meint damit im Wesentlich dasselbe wie das Machbarkeits-Dilemma.

Mag die Bewirtschaftung von Angst auf dem Markt der Wählenden einen höheren Ertrag versprechen, sollte eine linke, progressive Politik, die auch linkspopulistisch sein kann, soweit es sich um populäre Politik handelt, auf Zuversicht statt Angst setzen. Progressive waren immer dann erfolgreich, wenn sie das Bild einer Zukunft entwarfen, für die es sich zu streiten lohnt. Nicht die Bewahrung des demokratischen Status quo ist die Aufgabe der Progressiven, sondern die Antwort auf die Frage nach einem »buon stato«, nach einer guten Gesellschaft. In diesem Sinne verstehen wir Fortschritt. Als das Versprechen einer Veränderung zum Besseren. Progressive Politik in diesem Sinne beruht sowohl auf einer anschlussfähigen und offenen Vision, als auch auf konkretem praktischem Handeln im Hier und jetzt. „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“, hieß es 1972 in einem Bundestagswahlkampf. Das stimmt noch immer und sollte im Sound der Bundestagswahl 2025 enthalten sein. Es ginge dabei um nicht mehr und nicht weniger als die Überzeugung, dass die soziale und ökologische Demokratie den autoritären Populismus überholt und dessen drohende Hegemonie abwendet, weil sie nicht allein das fragile Bestehende bewahrt, die Zukunft die Vergangenheit ist, die durch eine andere Tür wieder hereintritt, sondern eben den »buon stato« anstrebt.

Der Begriff der Progressiven ist hierbei bewusst gewählt und das Gegenteil der diversen linken Bemühungen um »Alleinstellungsmerkmale«. Ich verwende ihn im Wissen darum, dass kluge Linke den Begriff der »Progressiven« kritisch diskutieren. Alexander Brentler beispielsweise skizzierte 2021 im Jacobin-Magazin die Progressiven als eine zentristische Strömung der sozialdemokratischen und grünen Parteien, die den Kapitalismus verwalten und seine Verwerfungen zu glätten versuchen: „Die Vorstellung einer organisierten arbeitenden Klasse, die als eigenständiges politisches Subjekt agiert und die Wirtschaftsordnung in ihrem Interesse grundsätzlich verändern könnte, ist ihnen fremd. Ihr Optimismus, das Kapital durch einen regulierenden Staat einhegen zu können, rührt auch daher, dass sie schlicht nicht an mögliche Alternativen glauben.“

Dennoch stellte er pragmatisch-nüchtern fest: „Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die arbeitende Klasse nirgendwo in der westlichen Welt hinreichend gut organisiert ist, um eine transformative Politik derzeit aus eigener Kraft zu realisieren. Linke Gesellschaftsentwürfe werden ohne einen zumindest zeitweisen Pakt mit dem progressiven Zentrum kaum umsetzbar sein.“

Anders als in Frankreich und anderen Ländern gibt es in Deutschland rechtliche und verfassungsmäßige Rahmenbedingungen, die die Bildung von Wahlbündnissen oder gemeinsamen Listen zwischen Parteien einschränken oder erschweren. Listenverbindungen mehrerer Parteien sind wahlrechtlich ausgeschlossen. Trotz dessen spricht aus meiner Sicht viel dafür, ein progressives Bündnis, das politische Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen vereint, zu konzipieren. Es sollte darauf beruhen zu wissen, was uns eint, anstatt uns von dem trennen zu lassen, was uns unterscheidet. Soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Menschenrechte, faire Arbeitsbedingungen, eine gerechte Wirtschaftspolitik und eine starke Demokratie sind die Säulen, auf denen ein solches Bündnis ruhen sollte. Gewerkschaften und Bewegungen bringen ihre spezifischen Perspektiven ein, die für die Verwirklichung dieser Ziele unerlässlich sind.

Im Lichte der diesjährigen Wahlerfahrungen mit einer starken Rechten sollten Wahlantritte dort wo es geht, strategisch koordiniert werden, um Progressive Direktmandate zu verstärken.

Eine gemeinsame (Wahl)Plattform »Worin wir uns einig sind« würde trotz getrennter Wahlantritte deutlich machen, dass uns und was uns als Progressive eint. Es würde die wesentlichen Kernanliegen aller beteiligten Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen umfassen und könnte dazu beitragen, eine klare, progressive Alternative deutlich zu machen. Ein progressives Bündnis in diesem Sinne würde und müsste die Vielfalt der progressiven Kräfte widerspiegeln. Einheit in der Vielfalt – Vielfalt in der Einheit wäre eine Stärke, die es ermöglichen könnte, eine breitere gesellschaftliche Basis zu erreichen und Mut zu machen.

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Der Beitrag erschien in Heft 10/2024 der beim VSA-Verlag erscheinenden Monatszeitschrift Sozialismus.de und ist als .pdf-Datei abrufbar.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

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Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.