20.10.2016

Linker Konservatismus

Vor einigen Tagen erläuterte der Thüringer Ministerpräsident, Bodo Ramelow, in der OTZ, warum er sich durchaus als Konservativer versteht. Seitdem haben die Vorsitzenden von CDU, AfD und FDP ihre Positionen zum Konservatismus dargelegt und versucht zu begründen, warum ein linker Ministerpräsident kein Konservativer sein könne. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Albert H. Weiler warf dem Ministerpräsidenten sogar chamäleonhaftes Verhalten vor. Er würde Zustände kritisieren, für die er selbst keine Vorschläge unterbreiten würde. In diesem Vorwurf drückt sich ein Missverständnis aus. Im Hinblick auf die Frage, was konservativ ist und auf das Wirken des Ministerpräsidenten.

 

Interreligiöser Dialog

Der Konservatismus, darin besteht unter den bisherigen Autoren der Debattenbeiträge - von Herrn Höcke abgesehen - Einigkeit, will die gewachsene Gesellschaftsordnung bewahren und bezieht sich positiv auf deren konstituierende Wertvorstellungen. Diese liegen begründet in der Tradition der Aufklärung und den sich mit der Französischen Revolution herausgebildeten Rechtsnormen der Gleichheit des Menschen. Kulturell in den unterschiedlichen Einflüssen des Christentums, des Judentums und - in beiden nie zu trennen - der arabischen Philosophie und Kultur. Bereits Goethe formulierte im „West-östlichen Diwan“: „Wer sich selbst und andere kennt | Wird auch hier erkennen: | Orient und Okzident | Sind nicht mehr zu trennen.“ Wenn der Ministerpräsident dem vorsätzlichen Irrtum einer christlich-jüdischen abendländischen Leitkultur, der sich die Muslime anzupassen hätten, den interreligiösen Klammerbegriff der "abrahamitischen Religionen" entgegensetzt, argumentiert er bewusst konservativ als evangelischer Christ. Und ist dabei zugleich progressiv.

 

Zwangsläufiger Konservatismus eines Ministerpräsidenten

Ein Ministerpräsident kommt nicht umhin, konservativ zu sein, im Sinne dessen, was Jens Jessen vor einigen Jahren in der ZEIT als das „konservative Doppelgesicht“ beschrieb. Man kann - je nach Standpunkt - konservativ im Sinne des Bewahren von schlechtem Bestehenden (Privilegien, Machtverhältnisse, tradierte Vorurteile) oder gutem Bestehenden (Freiheit, Rechtstaatlichkeit, soziale Errungenschaften) sein. Das Eintreten des Ministerpräsidenten für gerechte Löhne, gute Arbeitsverhältnisse, armutsfeste Renten und eine wiederum gerechte Besteuerung hoher Einkommen und Erbschaften ist sozial konservativ. Die Kritik an Handelsabkommen wie CETA und TTIP richtet sich gegen die Unterminierung von Sozial- und Verbraucherschutzstandards. Das Ziel ist die Bewahrung des sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft, der rund drei Jahrzehnte lang durch neoliberale Vermarktlichung in Frage gestellt wurde. Linke können demnach mit Konservativen gemeinsame Ziele verfolgen, in diesem Sinne konservative Werte vertreten. Ein Ministerpräsident hat das gesamte Land in den Blick zu nehmen. Er ist zwangsläufig konservativ, denn er bewahrt das Beste des Landes und will es weitertragen.

 

Skepsis – der Wert des Konservatismus

Gleichzeitig kann ich mich als politischer Linker - anders als der Ministerpräsident - nicht als Konservativer verstehen. Der Konservative ist ein Skeptiker im Hinblick auf gesellschaftlichen und technischen Fortschritt. Grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen sind ihm ein Greuel. Diese Haltung teile ich nicht. Ich schätze den Konservatismus als bedeutsames Korrektiv gegenüber technischen Allmachtsphantasien. Nicht jede technische Möglichkeit dürfen wir auch ausnutzen wollen. Den Wert des Nichtwissens, z.B. bei der Pränataldiagnostik ist mir wichtig ebenso das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, für das Edward Snowden steht. Mit den Konservativen teile ich Befürchtungen hinsichtlich gesellschaftlicher Großpläne. Die Tragödien des 20. Jahrhunderts bestanden darin, dass im Namen unterschiedlicher Theorien der Zweck jedes Mittel heiligen sollte. Dennoch ist das Diktum des konservativen Historikers Francis Fukujama falsch, der 1990 nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus das Ende der Geschichte ausrief. Die Gesellschaft befindet sich in stetem Wandel. Der politische Linke kommt nicht umhin, stets zu prüfen, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Weise verändert werden können, dass die „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (Marx)

 

AfD und PEGIDA – reaktionär statt konservativ

Damit kommen wir letztlich auf all jene zu sprechen, die derzeit unter den Fahnen von AfD und PEGIDA  laufend, irrtümlicherweise als Konservative bezeichnet werden. Sie sind es nicht. Im Sinne der Neuen Rechten halluzinieren die AfD, der Front National in Frankreich und andere Populisten wie Donald Trump einen harmonischen Idealzustand von Volk und Nation‎. Den gab es nie. Und wo er hergestellt werden sollte, endete er in der europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Dieses idealisierte Traumland sei, so die populistische Erzählung, von innen durch korrupte Eliten und von außen durch Muslime, Flüchtlinge bedroht. In dieser Konstruktion müssen deshalb die Eliten ausgewechselt werden ("Merkel muss weg") und die „Lügenpresse“ abgeschaltet werden, damit endlich "das Volk" wieder zu Wort komme. Wer dieses "Volk" ist, definieren Höcke u.a. durch allerlei Ausschlusskriterien wie Homosexuelle, Frauenrechtlerinnen, Muslime - die Liste ließe sich fortsetzen. Ignoriert wird, dass unsere Gesellschaft vielfältig ist. Hinsichtlich der Herkunft unserer Mitbürger und widersprüchlich bezüglich der in ihr vertretenen individuellen und kollektiven Interessen. Diese Vielfalt und die Widersprüche werden fruchtbar nur im demokratischen Aushandlungsprozess. Der dauert manchmal lang und führt mitunter zu Enttäuschungen. Doch jede Alternative zur Demokratie ist anti-liberal und reaktionär. Der Ruf der AfD nach mehr direkter Demokratie suggeriert zunächst mehr Mitbestimmung. Wer jedoch das Volk in Stellung bringen will gegen das Parlament und die vermeintlichen Altparteien, möchte die Verfassungsordnung nicht erweitern durch verbesserte Mitbestimmung. Er möchte sie ersetzen, durch eine illiberale Demokratie nach dem Muster von Viktor Orban, wie sie in Ungarn besichtigt werden kann. Im besten Sinne bewahrend treten Konservative, gemeinsam mit Liberalen, Radikaldemokraten und Linken für den im Grundgesetz festgeschriebenen demokratischen und sozialen Rechtsstaat ein.