Rede im Bundesrat, 19.11.2021
Rede anlässlich des TOPs "Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epide-mischen Lage von nationaler Tragweite (Drucksache 803/21)
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mit einem Zitat beginnen: Das Auslaufen der epidemischen Lage ist von vielen als Zeichen missverstanden worden, die Pandemie wäre vorbei. Wenn auch Äußerungen von mir so verstanden werden konnten, dann war ich nicht klar genug. Das sagte der derzeit geschäftsführende Bundesgesundheitsminister S p a h n am 5. November, zitiert in eigentlich allen bundesweiten Netzwerken.Wenn wir heute über die gestrige Entscheidung des Deutschen Bundestages diskutieren, dann entscheiden wir im Bundesrat wie immer in einer Situation, dass in 15 Ländern, die hier vertreten sind, Parteien zusammenarbeiten, von denen wenigstens ein Partner mit hoher Wahrscheinlichkeit der nächsten Ampelkoalition im Bund angehören wird. In zehn Regierungen gehört ein Koalitionspartner der derzeit noch geschäftsführenden Bundesregierung an. In vier Landesregierungen ist ein Partner Teil einer Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, die seit vielen Jahren, eigentlich seit 1990, als sie zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gekommen ist, die Erfahrung macht, dass alle ihre Anträge abgelehnt werden. Wenn insofern hier von nationaler Kraftanstrengung gesprochen wird, entspricht die Unterscheidung zwischen Opposition im Bund und Regierung im Bund quasi farbenverkehrt den Oppositions- und Regierungssituationen in den Ländern. Das heißt, dass wir in gemein-samer Verantwortung sind.Wenn wir – durchaus auch berechtigt – darüber diskutieren, was bei der gestrigen Bundestagsentscheidung besser hätte gemacht werden können, dürfen wir eines nicht vergessen: In der Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger, deren politisches Interesse und politische Kenntnis möglicherweise geringer ausgeprägt sind als hier im Plenum des Bundesrates, entscheiden „die“ richtig. Und unter „die“ wird gemeinhin „die politische Klasse“ verstanden. Manches, was wir in unseren Landtagen und anderswo diskutieren, wird wahrgenommen als Kampf um politische Geländegewinne, nicht aber als die Frage: Wo und wie wird die richtige Entscheidung getroffen? Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen.Wenn der amtierende Bundesgesundheitsminister selbstkritisch reflektiert, dass sein von ihm als Erster vorgetragener Vorschlag, die epidemische Lage zu beenden, eine Diskussion in Gang gesetzt hat, die im Ergebnis übrigens gestern im Bundestag zu einer Mehrheitsentscheidung geführt hat, zeigt das wieder: Wir alle sind Teil der politischen Strukturen, die Entscheidungen treffen, die für die Bürgerinnen und Bürger auf der Bundesebene und in unseren 16 Ländern mit all unseren Gebietskörperschaften Relevanz haben.
In diesem Sinne geht es tatsächlich, wie es der Präsident einleitend sagte und wie es die Kollegen in den Vorreden gesagt haben, darum, dass wir „nationale Kraftanstrengung“ vor allem als eine Begrifflichkeit des Gemeinsinns, des gemeinsamen Handelns identifizieren.Der Bundespräsident hat die Frage dieser Tage klipp und klar formuliert: Was muss eigentlich noch passieren? Ich werfe einen Blick zurück: Vor einem Jahr haben wir im Bundesrat über das Bevölkerungsschutzgesetz diskutiert; ich habe dazu gesprochen. Sie erinnern sich: Draußen haben Tausende Menschen protestiert, Impfgegner, Corona-Leugner nicht zu unterscheiden von denjenigen, die schlicht besorgt waren, auch wegen des Begriffs „Ermächtigung“ im Gesetz, weil sie das Gefühl hatten: Kippt hier möglicherweise etwas in unserem Gemeinwesen? Wir sind ein Jahr später. Es ist nichts gekippt in unserem Gemeinwesen. Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ist ein Jahr später genauso stabil. Und trotzdem gibt es viele Menschen, deren Familienverhältnisse durch die Corona-Diskussion zerrüttet sind. Wenn so oft davon gesprochen wird, dass es eine schweigende Mehrheit gibt: Die schweigende Mehrheit in diesem Land hat sich bereits impfen lassen. Die schweigende Mehrheit hält sich an die Regeln. Die schweigende Mehrheit hat Angst, dass es wieder einen Lockdown gibt, dass die Kinder wieder nicht in die Schule gehen können.Vor einem Jahr habe ich hier gestanden und den Appell an diejenigen gerichtet, die Besorgnis haben: Machen Sie sich erkennbar, wenn Sie mit uns in einen demokratischen Diskurs eintreten wollen! Unterscheiden Sie sich von denjenigen, die die Corona-Situation mit antidemokratischen Zielen leugnen, die Fake News verbreiten et cetera!
Heute richte ich erneut einen Appell, und zwar an diejenigen, die dieser Debatte folgen, an Erwin Krawunke, Erna Krawunke, Chantal, Kevin, Mehmet, Ayse, Kolja, Natalja – wie auch immer sie heißen in unserem Land, das sehr vielfältig ist. An diejenigen, die noch nicht zur Impfung gegangen sind, die glauben, dass es eine Art von zivilem Ungehorsam sei, sich nicht an Regeln zu halten, die aber in anderen Debatten vielfach ohne Grund denjenigen, die in unser Land kommen, sagen, sie haben sich an die Hausordnung zu halten: An die Hausordnung, an die Regeln in unserem Land haben sich alle zu halten. Und die Pflicht zum Gemeinwesen ist eine, die uns alle berührt, nicht, weil es ein Zwang von oben ist, sondern weil das der Grundsatz unseres solidarischen Gemeinwesens ist. Rentnerinnen und Rentner, Arbeitnehmer, Erwerbslose gehören zu denen, die sich haben impfen lassen.Und wenn irgendwo im ländlichen Raum ein Krankenhaus geschlossen wird, gibt es Tausende Unterschriften, dass das nicht passiert. Aber wo sind die Tausenden, die sich hinstellen und sagen: Ich will, dass dieses Kran-
kenhaus – das nicht geschlossen wird – von mir im Notfall genutzt werden kann, dass die Pflegekräfte, die Ärz-tinnen und Ärzte dort unter Bedingungen arbeiten können, die nicht von vollen Stationen geprägt sind, weil Menschen glauben, dass es ein Akt von zivilem Ungehorsam sei, eine Art Schwarzfahren für zwei Stationen in der Straßenbahn oder im Bus, wenn man sich nicht impfen lässt. Das ist es nicht. Es ist einfach fehlende Solidarität.Aber Solidarität ist die Basis, auf der unser Gemein-wesen, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung aufgebaut ist. Deshalb bitte ich Sie, wie es auch die Vorredner getan haben: Gehen Sie endlich zur Impfung! Nutzen Sie die Booster-Impfung! Vermeiden Sie Kontakte, die nicht zwingend notwendig sind, damit Kontakte stattfinden können, die wichtig sind für die Menschen, die sonst niemanden haben, damit unsere Schülerinnen und Schüler in den Schulen lernen können! Und halten Sie sich an die Regeln.
Es ist oft die Inaugurationsrede von K e n n e d y zitiert worden; Sie alle kennen diesen Satz: Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt. – Aber vor diesem Satz sagt er: Und deshalb, liebe Amerikanerinnen und Amerikaner .... Die gesamte restliche Rede, die er hält, ist ein Appell an den Gemeinsinn, an die Fähigkeit eines Landes, Herausforderungen zu meistern. Und er sagt dort auch: Es ist keine Schwäche, zu verhandeln, und man soll nicht glauben, dass Verhandlungen Schwäche sind.Wir werden immer wieder verhandeln, weil uns die Pandemie vor immer neue Herausforderungen stellt. Wir werden auch fehlerhafte Entscheidungen treffen, die wir korrigieren müssen. Denn wir kennen zum Teil noch gar nicht die Fragen, auf die wir Antworten geben müssen. Als die Ministerpräsidentenkonferenz im Sommer dieses Jahres die Entscheidung getroffen hat, die kostenlosen Tests im Oktober auslaufen zu lassen, war das auch eine Reaktion auf die geringe Impfquote. Das war zum damaligen Zeitpunkt richtig. Genauso richtig ist es – und das können wir mit durchgedrücktem Rücken sagen –, die kostenlosen Tests jetzt wiedereinzuführen. Das ist kein Politikversagen, es ist nicht falsch in einer unsicheren Situation, in einer Herausforderung, die wir in dieser Form nicht kannten.Wir sind in der Situation, dass wir über den Impfstoff vieles wissen, aber in der Frage, wie lange er bei mutierten Varianten wirkt, auf die Wissenschaft hören und unsere politischen Entscheidungen anpassen. Ja, wir werden fehlerhafte Entscheidungen treffen, wir werden Entscheidungen korrigieren müssen. Aber das ist Aus-druck von Stärke im Diskurs: durch Hören auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine ursprünglich 460 Bundesrat – 1011. Sitzung – 19. November 2021 richtige, sich im Zeitlauf als nicht ausreichend erwiesene Entscheidung korrigieren, um eine bessere Entscheidung zu treffen.Insofern bitte ich Sie alle: Lassen Sie uns, egal wo, nicht über Geländegewinne diskutieren! Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir es – auch durch die Vorbildwirkung – als politische Akteure schaffen, in einer Aktion Gemeinsinn und nationaler Kraftanstrengung tatsächlich gemeinsam zu handeln und auszustrahlen: Wir sorgen mit dafür, dass die Hausordnung in unserem Land für alle gilt, weil das unsere Solidarität ist.