Zukunft hat der Mensch des Friedens (Psalm 37, 37)
Rede auf der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier des Deutschen Katholikentags
- Jacob Schröter
Liebe Freundinnen und Freunde,
die heutige Gemeinschaftsfeier steht unter dem Motto von Psalm 37. Lassen sie mich gleichwohl im Anschluss an die Ausführungen des Vorsitzenden unserer thüringischen jüdischen Landesgemeinde, Prof. Schramm, das 614. Gebot ansprechen, das nach dem deutschen Philosophen und liberalen Rabbiner Emil Fackenheim den 613 traditionellen Geboten der Tora als Konsequenz aus der Shoa hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: „Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.“
Die Shoa läutet in dieser Deutung und der Benennung als 614. Gebot eine neue Ära des Judentums ein, in der jüdisches Leben per se ein Wert an Sich ist, der an vorderster Stelle steht.
Es ist mir eine große Ehre, heute bei dieser jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier und auf dem Katholikentag Gedanken zu Psalm 37, 37 äußern zu können. Die hier zitierte Kurzfassung „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ besteht aus fünf Wörtern, von denen zwei sehr mächtig sind: Zukunft und Frieden und in der Mitte steht der Mensch.
Ich las dieser Tage einen Aufsatz über die erstmalige Analyse der Rolle von Zukunftsthemen in den Bundestagsreden zwischen 1949 und 2021. Diese Analyse wurde mithilfe computerlinguistischer Methoden erstellt. Die Ergebnisse zeigen, dass der Diskurs über Zukunftsthemen im Bundestag mit dem Wirtschaftswunder stark anstieg. Seit der Finanzkrise 2008 wiederum hat der Bundestag an Zukunftsorientierung verloren. Statt sich mit langfristigen Rahmenbedingungen zu befassen, beschäftigt er sich mit den kurzfristigen Herausforderungen multipler Krisen.
"Achte auf den Frommen und siehe auf den Redlichen; denn für den Mann des Friedens gibt es eine Zukunft" ist das Gegenteil von Kurzfristigkeit. Der Psalm ermutigt zu Geduld und zum Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit. Ich verstehe dies als Plädoyer für lange Linien im Denken und Handeln.
Wir feiern in diesem Jahr den 300. Geburtstag von Immanuel Kant. Vor 240 Jahren forderte er uns in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ dazu auf, uns des eigenen Verstandes zu bedienen. Unsere Fähigkeit zur Selbständigkeit des Denkens und zur kritischen Reflexion sollen wir nutzen, ohne Leitung durch andere.
Elf Jahre später veröffentlichte Kant sein Werk "Zum ewigen Frieden". Dieses Werk behandelt den zweiten großen Begriff im Psalm: Frieden. Diese Schrift ist nicht weniger als eine visionäre Anleitung für die Schaffung und Erhaltung von Frieden zwischen den Nationen. Kant fordert die Abschaffung stehender Heere, das Verbot von Geheimverträgen und die Schaffung eines föderalen Bundes freier Staaten, um einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen. Diese Prinzipien sind heute so relevant wie vor 229 Jahren.
Schauen wir auf die Herausbildung illiberaler, defekter Demokratien, nicht nur in Ungarn. Wenn wir mit Sorge auf die Präsidentschaftswahlen in den USA blicken, wird uns die enorme Bedeutung von Kants Überzeugung deutlich. Ein dauerhafter Friede entsteht durch republikanische Verfassungen, die auf Freiheit und Gleichheit beruhen. Er entsteht auch durch das Recht auf Gastfreundschaft und die Schaffung eines weltbürgerlichen Rechts. Diese Ideen sind nicht nur philosophische Konzepte, sondern praktische Leitlinien für das friedliche Zusammenleben in einer globalisierten Welt. Sie machen zugleich deutlich, worum es letztlich auch bei der Europawahl am 9. Juni 2024 geht: Wollen wir ein Europa, das den Grundwerten von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verbunden ist oder fallen wir zurück in die egoistische und konflikthafte Dimension, in denen sich die Vaterländer Europas gegenüberstehen.
Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine und der vielen Kriege weltweit erfährt Psalm 37 eine zusätzliche Bedeutung. Wir stehen vor der Herausforderung, wie wir Frieden schaffen und bewahren können. Diejenigen, die sich für Diplomatie statt Krieg aussprechen, und diejenigen, die das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gegenüber Russland, auch mit Waffen, durchsetzen wollen, stehen oft in einer unversöhnlichen Debatte.
Doch Kants Philosophie bietet möglicherweise eine Verbindung zwischen diesen Positionen. Kant machte deutlich, dass Diktaturen keinen Beitrag zum ewigen Frieden leisten, sondern vielmehr zum ewigen Konflikt beitragen. Ein gerechter Frieden basiert auf Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. Dies sind Prinzipien, die sowohl durch diplomatische Bemühungen als auch durch das Verteidigen von Freiheit und Menschenrechten gegen Aggression verteidigt werden müssen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich spreche zu Ihnen als Minister, der sich als undogmatischer demokratischer Sozialist versteht. Diese ökumenische Gemeinschaftsfeier ist also größer als angenommen oder geplant, wenn mir dieser augenzwinkernde Einschub gestattet ist.
Der italienische Kommunist Enrico Berlinguer ermöglichte in den 1970er Jahren den „Historischen Kompromiss“ der kommunistischen Tolerierung einer christdemokratischen Regierung. Ich bin überzeugt davon, dass wir daraus – im Überwinden vermeintlich unüberbrückbarer Gegensätze – gerade in diesem Jahr und gerade hier in Thüringen lernen können.
Berlinguers Frau, Letizia Laurenti, war gläubige Katholikin und ihre gemeinsamen Kinder wurden getauft. Wenn es mir möglich ist, besuche auch ich - obwohl nicht getauft - sonntags den Gottesdienst. Ich lausche der Predigt, die gegenüber mancher Politikerrede vielfach hoffnungsvoller und toleranter ist. Im Gesangbuch lese ich: „Dein Name, Herr, ist Leben, Friede, Schalom und Salam, hilf uns allen, dass wir anfangen einander Brüder und Schwestern zu sein, gib uns Mut und die Voraussicht, schon heute mit dem Werk zu beginnen.“
Wenn ich die um mich Sitzenden mit „Der Friede sei mit dir“ grüße, empfinde ich danach tatsächlich Zuversicht. Ich stelle mir vor, im Parlament würden wir uns in gleicher Weise begrüßen. Was würde das mit uns machen? Ich stelle mir vor, unsere politischen Reden würden von Zuversicht handeln. Stelle mir vor, wir sprechen von Zukunftsthemen und langen Linien. Und stelle mir vor, wir verzichten auf parteitaktische Geländegewinnen und darauf, den anderen rhetorisch zerstören zu wollen.
Die katholische Soziallehre, von der ersten päpstlichen Schrift "Rerum Novarum" bis hin zur "bevorzugten Option für die Armen", entwickelte sich von einer privaten Askese hin zu einer spezifischen gesellschaftlichen Antwort auf die ungerechte Ordnung der Gesellschaft. Dies bedeutete, Politik nicht nur für die Armen, sondern mit den Armen zu machen. Die sozialistische Strömung hat aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen müssen, dass die Verteidigung der Würde des Individuums, das Recht auf Selbstbestimmung und kollektive Selbstorganisation sowie der Schutz der Natur untrennbare Bestandteile einer solidarischen und emanzipatorischen Veränderung der Welt sind.
Liebe Freundinnen und Freunde, lassen Sie uns in diesem toleranten und Widersprüche dialektisch auflösenden Sinne den Psalm 37, 37 als Aufruf verstehen, aktiv für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Lassen Sie uns daran erinnern, dass der wahre Friede nicht einfach die Abwesenheit von Krieg ist, sondern das Vorhandensein von Gerechtigkeit und Gleichheit. Daraus wiederum erwächst Zukunft und Zuversicht im Wunsch nach dem ewigen Frieden. Es schließt sich der Kreis zu den beiden mächtigen Wörtern „Zukunft“ und „Frieden“ in deren Mittelpunkt der Mensch steht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen für den weiteren Katholikentag alles erdenklich Gute.