04.03.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Finanzen

Was tun? Was tun: Die Investitionsbremse lösen.

n Infrastruktur: die eingestürzte Carolabrücke in Dresden

Manchmal geht es schneller als man denkt. Die Klage der CDU/CSU vor dem Bundesverfassungsgericht entzog der Ampel 2023 die finanzpolitische Grundlage. Gemeinsam mit der FDP blockierte die Union zudem jede Reform der Schuldenbremse – eine Sackgasse, die absehbar war. Nun sollen eilig milliardenschwere Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur geschaffen werden. Statt nun mit den Stimmen des „alten Bundestages“, wenige Tage vor dem Auslaufen seiner Amtszeit Sondervermögen zu beschließen, sollte deren Einrichtung mit einer verbindlichen Vereinbarung zwischen den verfassungsändernden Mehrheiten aus CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Die Linke über die Reform der Schuldenbremse verbunden werden. Darüber hinaus liegt auf der Hand, dass die Investitionsziele, egal wie umfangreich die Mittel sind, wirkungslos bleiben, wenn nicht zugleich dysfunktionale Verwaltungsprozesse, föderale Abgrenzungsschwierigkeiten sowie lange Planungs- und Genehmigungsverfahren überwunden werden. Die faktische Überwindung der Schuldenbremse muss daher mit einer Staatsreform einhergehen.

 

Finanzpolitische Widersprüche: Von der Blockade zur Kehrtwende

Wenn dieser Tage die Union aus CDU und CSU gemeinsam mit der SPD in den Sondierungsgesprächen einer neuen Bundesregierung über neue Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur in Volumen von bis zu 900 Milliarden EUR sprechen, sind dies schwindelerregende Summen. Ebenso schwindelerregend ist der Kurswechsel, den die Union unter dem designierten Bundeskanzler Friedrich Merz vollzieht. Denn es war die CDU/CSU-Fraktion, auf deren Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit Entscheidung vom 15. November 2023 (2 BvF 1/22) der finanzpolitischen Strategie der Ampel die Grundlagen entzogen wurden, auf denen Union und SPD nunmehr aufbauen wollen.

Zur Erinnerung: Die Ampel-Koalition beabsichtigte ursprünglich, Kredite im Wert von 60 Mrd. EUR aufzunehmen, um damit Maßnahmen zur Umsetzung der Klimaziele und klimagerechten Transformation zu finanzieren. Dazu sollte ein spezieller Fonds aufgelegt werden. Da aus Sicht der Verfassungsrichter mit dem Klima- und Transformationsfonds die Schuldenbremse umgangen würde, erklärten sie das Vorhaben für nicht verfassungskonform. Zutreffend wies Michael Hüther, Direktor des Instituts der Wirtschaft in Köln, darauf hin, dass „wohl kaum eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so dramatische Auswirkungen auf die Tagespolitik hatte“, wie das Urteil vom 15. November 2023.

Für Belehrungen oder Häme in Richtung Union gäbe es also grundsätzlich Anlass. Doch dafür ist nach der autoritären Zeitenwende in den USA unter Trump/Vance/Musk mit den außen- und sicherheitspolitischen Folgen weder die Zeit noch die Raum. Jede Situation ist konkret und es spricht viel dafür, sich bewusst zu machen, worüber wir bei der Reform der Schuldenbremse eigentlich sprechen.

Die Schuldenbremse: Ein umstrittenes Instrument von Beginn an

Unumstritten war die Schuldenbremse nie. Im Gegenteil gingen ihrer Einführung grundsätzliche Kontroversen voraus. Auf der linken und gewerkschaftlichen Seite wurde das Instrument stets als ökonomisch unvernünftig kritisiert und grundsätzlich infrage gestellt. Die Abschaffung der Schuldenbremse wurde diesseits gefordert. Wirtschaftsliberale Falken hingegen galt das Instrument als einziger Weg, um die gefürchtete Verschuldungsfalle zu vermeiden.

Während auf Bundesebene immerhin noch ein begrenzter Verschuldungsspielraum von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts besteht, der unter bestimmten Voraussetzungen genutzt werden kann, verordneten sich die Länder eine vollständige Sperre jeglicher Kreditaufnahme (vgl. kritisch: Kirchgässner 2014; affirmativ: Karl-Bräuer-Institut 2010). Ihr Handlungsspielraum schrumpfte faktisch auf Null, auch wenn in der Pandemie die Länder entsprechende kreditfinanzierte Sondervermögen schufen.

Fünfzehn Jahre später vertreten relevante Akteur:innen innerhalb der Wissenschaft und auch im politischen Spektrum eine aufgeklärtere Haltung gegenüber der Schuldenbremse (vgl. Benoska et al. 2024; Bardt et al. 2019).

Wachsende Reformbereitschaft in Wissenschaft und Politik

In den vergangenen Jahren wurde die Schuldenbremse zunehmend infrage gestellt. Wissenschaftliche Gutachten und wirtschaftspolitische Analysen weisen auf strukturelle Probleme hin:

  • Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) forderte in einem Policy Brief (Januar 2024) eine Anpassung der Schuldenbremse. Die Regel sei „starrer als nötig“ und beschränke die fiskalischen Spielräume für zukunftsgerichtete Ausgaben. Vorschläge umfassen eine flexiblere Konjunkturkomponente, eine Erhöhung der zulässigen Defizitgrenze in Phasen niedriger Staatsverschuldung und eine Verbesserung der Methoden zur Berechnung des Produktionspotenzials.

  • Das Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen kritisierte, dass die Schuldenbremse durch ihre aktuelle Berechnungsmethode eine prozyklische Wirkung entfaltet: In wirtschaftlichen Abschwüngen werden Kürzungen erzwungen, während in Aufschwüngen keine ausreichende fiskalische Unterstützung möglich ist. In einem Rechtsgutachten ließ das Dezernat Zukunft den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Rahmen einer Reform der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ermitteln. Florian Schuster, Max Krahé, Philippa Sigl-Glöckner entwickelten zudem einen Reformvorschlag, da die Konjunkturkomponente in der gegenwärtigen Ausgestaltung gerade nicht dem Auftrag gerecht wird, eine konjunkturgerechte Fiskalpolitik zu ermöglichen. Das Institut schlägt vor, die Berechnungsgrundlage für das Produktionspotenzial anzupassen, um eine weniger restriktive Anwendung der Schuldenbremse zu ermöglichen.

  • Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWK empfahl in seinem Gutachten „Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik“ von Dezember 2023 eine Weiterentwicklung der Schuldenbremse zur „Goldenen Regel Plus“. Öffentliche Nettoinvestitionen sollten von der Schuldenbremse ausgenommen werden, sofern deren investiver Charakter durch eine unabhängige Institution bestätigt wird. Zudem sollten Investitionsfördergesellschaften geschaffen werden, die langfristige Finanzierungssicherheit gewährleisten.

Wie eine Schuldenbremse 2.0 praktisch aussehen könnte, skizzierten zuletzt Martin Beznoska et al. im IW-Policy Paper, das im Juni 2024 erschien. Betrachtet werden drei Reformoptionen: 1) Nettoinvestitionsregel; 2) Atmende Schuldenregel mit Stabilisierungsterm; 2) Ausgabenregel, die – so die Autoren – Vor- und Nachteile aufweisen, „da sie – genau wie die aktuelle Regel – bestenfalls Second-Best-Lösungen darstellen und des ‚Königsweg‘ nicht gibt.” (ebd.: 29) Sie schlussfolgern deshalb normativ:

“First-best wäre eine Politik, die ohne eine starre Restriktion verantwortungsvoll und nachhaltig im Sinne der Volkswirtschaft und der Generationen, nicht im Sinne der Maximierung von Wählerstimmen, mit den öffentlichen Finanzen umgeht.“

Nachholende Modernisierung ist nötig: Zahlen und Fakten

Dass die lange Zeit als antagonistisch angesehenen Wirtschaftsforschungsinstitute, das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (kurz: IW Köln) einerseits und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung andererseits sowohl in der Bewertung der strukturellen Schwäche der geltenden Schuldenbremse als auch der Tragfähigkeit einer moderat höheren Staatsverschuldung für die deutschen öffentlichen Finanzen übereinstimmen, bewiesen bereits gemeinsame Publikationen von Autor:innen beider Institute (vgl. Dullien et al. 2020; Bardt et al. 2019).

In dem im IMK erschienen Policy Brief aus dem Mai 2024 ermittelten sie die Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation (Dullien et al. 2024), die sie auf rund 596 Mrd. EUR taxieren. Sie verteilen sich wie folgt:

  • Kommunale Infrastruktur: 177,2 Mrd. Euro

  • Bildung (Schulen, Hochschulen, Ganztagsbetreuung): 41,4 Mrd. Euro

  • Wohnungsbau (inkl. sozialer Wohnungsbau): 56,0 Mrd. Euro

  • Schienenverkehr: 59,5 Mrd. Euro

  • Dekarbonisierung und Klimaanpassung: 213,2 Mrd. Euro

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) schlägt ein Sondervermögen mit einem Volumen von 376 bis 396 Milliarden Euro vor. In einem Positionspapier forderte er: „Die öffentlichen Investitionen und die Anreize für private Investitionen müssen im nächsten Jahrzehnt erheblich erhöht werden. Ein Programm für Infrastruktur, Transformation und Resilienz sollte ein Volumen von 375-395 Mrd. EUR über das nächste Jahrzehnt aufweisen. Etwa ein Viertel entfällt auf zusätzliche Anreize für private Investitionen in Transformation, Gebäude und Resilienz, drei Viertel des Volumens auf die öffentliche Investitionstätigkeit.“ Die Schwerpunkte aus seiner Sicht verteilen sich wie folgt:

  • Verkehrsinfrastruktur: 158,3 Mrd. Euro (davon 63 Mrd. für Schienenwege)

  • Bildungsinfrastruktur: 100,8 Mrd. Euro

  • Wohnungsbau und Gebäudesanierung: 56,0 Mrd. Euro

  • Dekarbonisierung in der Industrie: 19,4 Mrd. Euro

  • Resilienzmaßnahmen (Versorgungssicherheit, Lieferkettenstabilität): bis zu 40 Mrd. Euro

„Unter der Voraussetzung, dass eine effizientere öffentliche Mittelverwendung sichergestellt, notwendige Strukturreformen angegangen und investive Ausgaben priorisiert werden, können“ – so der BDI in seinem ebenfalls im Juni dieses Jahres veröffentlichten Positionspapier – „der Deutsche Bundestag und der Bundesrat inhaltlich und präzise definierte Sondervermögen mit verfassungsgebender Mehrheit einrichten“ (BDI 2024: 1).

Diese Zahlen zeigen: Selbst wirtschaftsnahe Akteure halten massive staatliche Investitionen für notwendig.

Sondervermögen als Notlösung – die Schuldenbremse muss weg

Sondervermögen sind ein pragmatischer Schritt, um akute Investitionslücken zu schließen. Sie sind jedoch keine dauerhafte Lösung, da sie letztlich eine Umgehung der Schuldenbremse darstellen und die strukturellen Probleme nicht lösen.

Langfristig führt kein Weg daran vorbei, die Schuldenbremse komplett abzuschaffen. Sie zwingt die öffentliche Hand zu einer Kürzungspolitik, die wirtschaftlichen Fortschritt hemmt, während Unternehmen und Haushalte sich ohne solche Restriktionen verschulden können. Eine moderne Finanzpolitik benötigt eine dauerhafte, transparente und demokratisch legitimierte Investitionsstrategie, anstatt sich in rechtlichen Umgehungskonstruktionen zu verlieren.

Drei Maßnahmen sind notwendig:

  1. Kurzfristig: Nutzung von Sondervermögen, um die dringendsten Investitionen in Infrastruktur, Klimaschutz und Digitalisierung abzusichern.

  2. Mittelfristig: Reform der Schuldenbremse durch eine „Goldene Regel Plus“, die öffentliche Nettoinvestitionen von der Schuldenbremse ausnimmt.

  3. Langfristig: Abschaffung der Schuldenbremse zugunsten einer flexiblen Finanzpolitik, die ökonomisch vernünftige Investitionen ermöglicht.

Schuldenbremsenreform ohne Staatsreform bleibt unvollständig

Wenigstens ebenso lange, wie über die Reform der deutschen Fiskalregeln, wird auch über die nötige Erweiterung des Investitionsbegriffs debattiert. Umfasst der traditionelle Investitionsbegriff hauptsächlich physische Infrastruktur wie Straßen, Brücken und Gebäude, plädieren Befürworter:innen einer Erweiterung dafür, auch Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung, digitale Infrastruktur, Klimaschutzmaßnahmen und soziale Investitionen (wie in Gesundheit und Pflege) als Investitionen gelten zu lassen, da sie langfristig wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile bringen. Faktisch wenden inzwischen eine Reihe von Ländern einen erweiterten Investitionsbegriff an, indem sie entsprechende Investitions- und Förderprogramme auf den Weg brachten. Gleichzeitig sind die methodischen und Abgrenzungsschwierigkeiten nicht zu unterschätzen. Zu weit gefasst, könnte grundsätzlich jede konsumtive Ausgabe als Investition gefasst werden, womit grundsätzlich sinnvolle Fiskalregeln jede Wirkung verlieren. Darüber hinaus ist die Bewertung von Investitionen in immaterielle Güter (z.B. Bildung, Gesundheit) mindestens komplex, da ihre langfristigen Erträge schwer quantifizierbar sind.

Dies wiederum macht zeitlich begrenzte Sondervermögen im Grundgesetz, wie sie vom BDI aber auch dem Beirat beim BMWK vorgeschlagen werden, insoweit attraktiv, als hier ein erweiterter Investitionsbegriff zugrunde gelegt werden kann, ohne ihn trotz der benannten Abgrenzungsschwierigkeiten, quasi auf Dauer zu schalten. Zutreffend ist ebenso, woran Gustav A. Horn erinnert:

„Sondervermögen sind endlich, werden also nach einiger Zeit aufgebraucht sein. Ab dann greift wieder das Korsett der Schuldenbremse, ohne dass wir aus heutiger Sicht wissen, ob unsere notwendigen Investitionsbedarfe erfüllt worden sind. Diese Anmaßung von Wissen über die Zukunft ist schon der Denkfehler, der der Schuldenbremse zugrunde liegt. Den gilt es in jedem Fall zu korrigieren.“

Die Debatte um Sondervermögen und diSchuldenbremse kann nicht isoliert geführt werden. Denn hohe Investitionssummen bleiben wirkungslos, wenn die Umsetzung durch dysfunktionale Verwaltungsprozesse, überlange Planungs- und Genehmigungsphasen und eine zersplitterte föderale Zuständigkeit ausgebremst wird.

Ohne eine umfassende Reform der öffentlichen Verwaltung bleibt auch eine Reform der Schuldenbremse unzureichend. Es braucht beides: eine Finanzpolitik, die Investitionen ermöglicht, und einen Staat, der handlungsfähig ist.

Deutschland steht auch hier vor einer Weichenstellung: Weiter an überholten und dysfunktionalen Regeln festzuhalten oder endlich eine moderne Finanz- und Investitionspolitik im Zuge einer Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung umzusetzen, damit unser sozialer und demokratischer Rechtsstaat zukunftsfest ist.